In Fantasy-Romanen stößt man immer wieder auf diese verrückten Seelenwanderungen – irgendein trauriges, einsames, armes oder überarbeitetes Mädchen stirbt tragisch bei einem Verkehrsunfall oder vor Erschöpfung bei der Arbeit, ohne jegliche unerwartete Wendung. Ja, es ist wirklich so banal.
Daher sollte es niemanden überraschen, wenn unserer Heldin Ähnliches widerfährt, oder?
***
Das gelbe Sonnenlicht war einfach zu grell, als dass sie ihre Augen auf einmal weit hätte öffnen können. Das Mädchen wälzte sich langsam im Bett hin und her, versuchte dabei verzweifelt, sowohl die wärmenden Sonnenstrahlen, die sanft ihr Gesicht streichelten, als auch die Weiche der kühlen Seidenbettwäsche, die sich seltsam kühl und doch unbestreitbar angenehm auf ihrem erschöpften Körper anfühlte, aufzunehmen.
Diese junge Frau ist Rosalie Ashter, die einundzwanzigjährige Tochter des Marquis Ian Ashter, oder, wie sie sich selbst besser kennt, Wang Meiling, eine fünfundzwanzigjährige Büroangestellte, die im Körper einer unbedeutenden Bösewichtin eines Romans für Erwachsene aufgewacht ist, den sie gerade erst am Tag vor ihrer Seelenwanderung zu Ende gelesen hatte.
Eine Woche war bereits vergangen, seit sie feststellte, dass sie Rosalies Körper in Besitz genommen hatte, und dennoch konnte sie immer noch nicht glauben, dass ihr das wirklich passiert war. Die Umstände waren trivial, die Wahrscheinlichkeit dafür aber gleich null, vor allem, da sie absolut keine Ahnung hatte, ob sie in ihrem früheren Leben gestorben war oder im Koma lag, verdammt dazu, diesen bizarren Traum ewig zu träumen, oder zumindest bis der süße Erlöser Tod sie endlich finden würde.
'Lasst uns vernünftig nachdenken.'
Rosalie setzte sich hinter den kleinen Holztisch, auf dem ein großer, verzierter Kosmetikspiegel stand, und betrachtete sich genau. Ihre langen, gewellten, braunen Locken fielen bis über ihren unteren Rücken und leuchteten mit dunkelgoldenen Strähnchen auf, jedes Mal wenn sie vom brennenden Licht der Sonne berührt wurden; ihre tiefgrauen Augen mit einem Hauch von Himmelblau darin, umrahmt von dunklen, langen Wimpern; ihre rosa, volle, sinnliche Lippen glichen zwei Blütenblättern einer wilden Rose und ihre glatte, porzellanartige Haut war mit einem leichten, rosigen Hauch auf den Wangen versehen – eine beneidenswerte, fast unwiderstehliche Schönheit, von vielen gelobt, verschwendet an den gebrochenen Geist einer Figur.
Das war Rosalie Ashter, und genauso sah die junge Frau aus, die Meiling aus der spiegelnden Oberfläche anblickte.
Es war genug Zeit vergangen. Es gab keinen Grund, es zu leugnen. Sie hatte sich in einen Roman für Erwachsene versetzt und war nun Rosalie Ashter, die tragische, aber fast unbedeutende Schurkin, die dazu verdammt war, den grässlichsten Tod zu sterben, den sich Meiling nur vorstellen konnte.
Das Mädchen öffnete die kleine Schublade des Holztisches und holte ein rotes Notizbuch mit Ledereinband hervor, auf dem in schöner, goldener Schreibschrift der Name "Rosalie" prangte. Als Meiling sich zum ersten Mal in dieser Welt wiederfand, hielt sie genau dieses Notizbuch in Händen, aber als sie es aufschlug, war es völlig leer, bis auf drei in unglaublich kleiner Schrift am unteren Ende der letzten Seite geschriebenen Sätze: "Erschöpft. Pochend. Mein Herz ist so gequetscht wie mein Körper."
'Ich kann nicht einmal vorgeben, überrascht zu sein. Rosalie, du arme Seele, es sieht so aus, als wärst du verzweifelt darauf aus gewesen, diesem Ort zu entfliehen.'Sie ließ ihre schlanken, eleganten Finger über die winzigen schwarzen Buchstaben gleiten und stieß einen langen, etwas bemitleidenswerten Seufzer aus. In dem Roman ab 18 mit dem Titel "Acme-Fieber" war Rosalie Ashter lediglich eine Nebenfigur, eingeführt, um die Geschichte des männlichen Protagonisten, Herzog Damien Dio, zu fördern und seiner Entwicklung Charaktertiefe zu verleihen, während gleichzeitig etwas Dramatik und Tragik in die düstere Handlung eingewoben wurde.
Die Geschichte selbst war gar nicht übel - Damien Dio, ein junger Herzog mit tragischer Vergangenheit, hatte nicht nur seine Eltern in jungen Jahren verloren, sondern war auch entführt und in einem Opferritual von Relikten eines dunklen heidnischen Kultes benutzt worden. Obwohl das Ritual scheiterte und die Heiden gefasst und hingerichtet wurden, verfluchte man Damien mit etwas, das der Tempel später als "Acme-Fieber" bezeichnete.
In dem Roman galt Acme als Attribut dämonischer Macht - angeblich war Asmodeus, der mächtige Dämonenfürst der Lust, der alleinige Inhaber von Acme und nutzte es, um Menschen zu verführen, sie dazu zu bringen, ihm ihre Seelen zu verkaufen und sich von ihren dunklen oder unterdrückten und unbefriedigten Verlangens zu ernähren.
Wegen Damiens hohem gesellschaftlichen Status und der Unfähigkeit des Tempels, die Krankheit zu heilen, wurde Damiens Acme-Fieber vor dem Adel verborgen, während der Hohepriester Alexander Saro ihn insgeheim mit seiner angeborenen heiligen Kraft behandelte.
Vor diesem unkonventionellen Hintergrund, und weil es sich um einen Roman mit Altersbeschränkung handelte, war die einzige Möglichkeit für Damien, die Schmerzen und das Leid des Acme-Fiebers zu lindern, "intime Beziehungen" mit einer Frau zu haben, die entweder über den Acme-Fluss verfügte und ihm half, das Acme in seinem Körper zu erneuern, oder über den Nadir-Fluss - eine seltene Art von "Heiliger Kraft", die dazu bestimmt war, dämonische Flüche jeglicher Art und Stärke zu durchbrechen.
Es klang fast zu schön, um wahr zu sein, aber niemand wusste, wie man den Inhaber von Acme oder die Kraft von Nadir erkannte, bis eines Tages die verlorene Tochter von Baron Tobias Aelon, Evangelina Aelon, die weibliche Hauptfigur der Geschichte, in die Hauptstadt zurückkehrte und als die mächtige Priesterin identifiziert wurde, die in der Lage war, Damiens Fluch zu brechen, indem sie sein Acme neutralisierte.
"Und sie werden glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben und zehnmal am Tag befriedigenden Geschlechtsverkehr haben...", murmelte Rosalie leise vor sich hin und schlug das Notizbuch heftig zu.
Die Liebesgeschichte der Hauptcharaktere war ihr eigentlich egal, sie gehörte zum Klischee des Genres. Was ihr jedoch am Herzen lag, war das Schicksal der Rosalie, deren Körper sie nun in Besitz genommen hatte, denn dieses Mädchen sollte nicht einfach nur eine Nebenfigur sein, sondern einem tragischen Ende entgegensehen, während es sowohl physisch als auch sexuell schwer misshandelt wurde.
Und das Schlimmste daran war... dass derjenige, der die arme Rosalie ihr Leben lang gequält hatte, niemand anderes als Raphael Ashter war, Rosalies einziger älterer Bruder.
"Zum Glück weiß ich, dass Rosalie Ashter bereits einen wichtigen Trumpf erlangt hat, der mir helfen könnte, ihrem schrecklichen Schicksal zu entkommen. Ich muss einfach... auf den richtigen Zeitpunkt warten, um ihn einzusetzen."
Das Mädchen blickte auf ihre rechte Handfläche, die von einer langen, ziemlich dicken rosafarbenen Narbe entstellt war, und legte ein subtil listiges Lächeln auf - die ursprüngliche Rosalie war zu verzweifelt und hat ihre Chance auf Freiheit vertan. Die gegenwärtige Rosalie durfte sich solche Fehler nicht leisten.