Chapter 8 - Der Brief

"Das Kleid sitzt doch nicht zu eng, oder, Mylady?"

Es war bereits das dritte Mal, dass Aurora diese Frage stellte. Nach einer schlaflosen Nacht mit Raphael, gefolgt von einem ziemlich langen und ermüdenden Weinkrampf in den Armen ihrer Zofe, stand Rosalie am Rande des Zusammenbruchs. Daher waren weder der Tragekomfort noch die Passform ihres Kleides ihre oberste Priorität, und so ignorierte sie die Frage nun zum dritten Mal.

Aurora, deutlich enttäuscht über das mangelnde Interesse ihrer Herrin an ihrer eigenen Kleidung und besorgt um ihren Gesamtzustand, ließ einen langen, missbilligenden Seufzer los und schüttelte den Kopf.

"Lady Rosalie, seid Ihr Euch sicher, dass Ihr heute hinausgehen wollt? Ihr seht sehr blass aus, und ich befürchte, dass Ihr jederzeit ohnmächtig werden könntet!"

Rosalie betrachtete ihr Spiegelbild in dem hohen Standspiegel und konnte nicht anders, als den Worten der Zofe still zuzustimmen. Selbst ihre atemberaubende Schönheit konnte nicht mit einer ganzen Nacht seelischer Qual mithalten, und obwohl Aurora über Make-up-Künste verfügte, die beinahe als Hexerei bezeichnet werden könnten, blitzte Rosalies Müdigkeit immer noch unter ihrer gepuderten Maske hervor und trug zu ihrem insgesamt kränklichen Erscheinungsbild bei.

"Schon gut, ich möchte nicht länger in diesem Zimmer eingesperrt sein, ich muss raus."

Das Mädchen hatte sich die ganze Woche über in ihrem Zimmer eingeschlossen und so getan, als sei sie krank, während sie versuchte, sich an ihre neue Realität anzupassen und einen Plan für ihre Zukunft zu entwickeln. Zwar war es wahr, dass Rosalie es leid war, drinnen zu bleiben und die Welt außerhalb des Anwesens der Ashtors erkunden wollte, aber der Hauptgrund für ihren Wunsch zu gehen war unbestreitbar ihr Bruder Raphael.

„Ich würde lieber irgendwo auf der Straße tot umfallen, als diesen Abschaum beim Frühstücken mit einem Lächeln im Gesicht zu sehen."

Anfangs war Rosalie besorgt, dass es ihren Vater verärgern könnte, das Haus ohne gemeinsames Frühstück zu verlassen, aber als Aurora ihr Manoria-Tee brachte, nachdem Raphael ihr Zimmer verlassen hatte, erzählte sie ihrer Herrin, dass Lord Ian Ashter ihr zusätzliches Geld geschickt und sie angewiesen hatte, ein Kleid für das bevorstehende kaiserliche Bankett zu bestellen.

Das Dienstmädchen war auch so raffiniert, von Raphaels Adjutanten zu erfahren, dass sein Morgentraining abgesagt wurde, da er sich nach einem anstrengenden Jagdausflug ausruhen wollte. Somit war die Möglichkeit, dass er Rosalie begleitete, nur um sie bei jedem Schritt zu beobachten und ihr vor allem bei der Wahl des Kleides zu helfen, ausgeschlossen.

"Aurora, prüf bitte, ob die Kutsche bereitsteht. Wir müssen sofort losfahren."

"Aber Mylady, es ist noch zu früh, alle Boutiquen haben geschlossen!"

Rosalie setzte sich hinter einen kleinen Holzschreibtisch neben dem Fenster ihres Schlafzimmers, öffnete die Schreibtischschublade und holte einen neuen weißen Umschlag, ein Blatt Papier, einen Füllfederhalter und ihr persönliches Siegel heraus. Dann blickte sie in Auroras verwirrtes Gesicht und lächelte.

„Das ist in Ordnung. Wir müssen noch einen Zwischenstopp machen, bevor wir das Einkaufsviertel erreichen."

***

Lady Ashter spielte weiter nervös mit dem Stift zwischen ihren langen, schlanken Fingern, während sie auf das leere Blatt auf dem Schreibtisch vor ihr starrte.

'Was schreibt man überhaupt in solchen Briefen? Ich habe so viele Romane gelesen und kann mich trotzdem an nichts erinnern, was mit der persönlichen Korrespondenz unter Adligen zu tun hat.'

Sie tippte noch einige Augenblicke mit den Fingern auf den Schreibtisch, dann ließ sie einen langen Seufzer heraus und schüttelte den Kopf. Es gab keine Zeit zum Zögern, alles war möglich, solange es das Interesse des Empfängers weckte.Voller Zuversicht zog Rosalie das Blatt Papier zu sich heran und begann zu schreiben, wobei sie jedes Wort sorgfältig umriss, um sich zu vergewissern, dass es auch lesbar war, und als sie schließlich fertig war, steckte sie es in den weißen Umschlag, schrieb ihren Namen auf die Vorderseite und verschloss ihn mit ihrem persönlichen Siegel, zufrieden mit dem Endergebnis.

Genau in diesem Moment, wie durch einen glücklichen Zufall, spähte Aurora in Rosalies Schlafzimmer und sagte, ziemlich leise,

"Lady Rosalie, die Kutsche ist bereit."

"Perfekt. Dann lasst uns aufbrechen."

***

Rosalie schaute aus dem Kutschenfenster, während sie den weißen Umschlag in ihren blassen, knochigen Händen festhielt. Sie fühlte sich extrem ängstlich, aber auch ein wenig aufgeregt, da sie endlich den Mann treffen würde, der ihre einzige Chance auf ein besseres Leben sein könnte - Großherzog Damien Dio, die männliche Hauptrolle in "Acme Fever".

Schließlich verlor Aurora die Geduld, als sie ihrer Herrin dabei zusah, wie sie mit dem ohnehin schon schlecht aussehenden Umschlag herumfuchtelte, und legte ihre raue Hand auf die von Rosalie und fragte in einem etwas tadelnden Ton,

"Meine Herrin, Sie werden diesen Brief jetzt in den Müll werfen! Lassen Sie mich ihn für Sie halten, ich werde dafür sorgen, dass er unversehrt bleibt."

Vorsichtig riss sie Rosalie den Umschlag aus den Händen und versuchte, ihn in einen einigermaßen anständigen Zustand zu pressen, wobei sie bemerkte, dass der Brief keinen Namen des Empfängers trug. Das Dienstmädchen zögerte einen Moment, aber da sie immer noch nicht wusste, wo sie hinwollten, bevor sie sich in das Einkaufsviertel der Hauptstadt begaben, beschloss sie, ihre Besorgnis trotzdem zu äußern,

"Verzeihen Sie, Lady Rosalie, aber überbringen Sie diesen Brief persönlich?"

Rosalie nickte, schaute immer noch aus dem Fenster und versuchte, die wohltuende Wärme des morgendlichen Sonnenlichts aufzusaugen und ihre müden Lungen mit dem erfrischenden Blumenduft des Waldgrüns zu füllen.

Sie hätte den Brief mit einem der Butler abschicken können, aber sie hatte Angst, dass Raphael ihn abfangen könnte, was natürlich in einer seiner verrückten, psychotischen Taten enden würde, und allein der Gedanke daran jagte Rosalie furchtbare Schauer über den Rücken.

Da Lady Ashter ihrer Zofe nur eine stumme Antwort gab, war Auroras Neugierde zu Recht nicht befriedigt, also stieß sie einen kurzen, nervösen Seufzer aus und versuchte es erneut,

"Verzeiht mir ein weiteres Mal, Mylady, aber für wen ist dieser Brief bestimmt?"

Endlich löste Rosalie ihren Blick von der wunderbaren Landschaft außerhalb der Kutsche und richtete ihre schönen, aber müden grauen Augen auf das unruhige Gesicht ihrer Zofe, ohne die wachsende Unruhe der Frau verstehen zu können, und als Auroras Gesichtsausdruck erneut vor Sorge zu kippen begann, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und versuchte, so gleichgültig wie möglich auszusehen, und gab ihrer Zofe die lang erwartete Antwort,

"Wir gehen zum Anwesen des Herzogs Dio."

"Wie bitte?!"