Rosalie stand vor der Kleiderboutique und betrachtete nachdenklich das Schild.
"Aurora... Meinst du wirklich, wir sollten hier reingehen?"
Der Laden vor dem sie standen, gehörte Lady Cecilia Bennett, der berühmtesten und teuersten Schneiderin der ganzen Hauptstadt. Wie im Roman beschrieben, schuf sie ausschließlich Unikate, die sich nur der Hochadel leisten konnte. Rosalie Ashter zählte nicht länger zu dieser Gesellschaftsschicht.
Warum also hatte Aurora vorgeschlagen, hierherzukommen?
"Entschuldigen Sie, Mylady, aber das waren die Anweisungen von Lord Ashter. Er meinte, Sie sollen ein Kleid in Lady Cecilia Bennetts Boutique erwerben."
Rosalie sah den nervösen Ausdruck ihrer Zofe und seufzte erschöpft. Sie wusste genau, weshalb ihr Vater wünschte, dass sie hier ein Kleid kaufte – er plante, seine Tochter wie ein Geschenk an den jungen Lord der Familie Amado weiterzureichen, und ein kostbares Geschenk benötigte eine angemessene Verpackung.
"In Ordnung. Dann lass uns eintreten."
Sie öffnete die hohe Holztür und wurde sofort vom melodischen Klingen eines Kristallwindspiels empfangen. Kurz darauf erschien eine eher kleine, aber schlanke und auffällig attraktive Frau Anfang dreißig, die aus dem Hinterzimmer kam. Ihr sonst strahlendes Gesicht verdunkelte sich sofort beim Anblick ihrer frühen Besucher.
"Ah... Guten Morgen, Lady Ashter. Was verschafft uns die Ehre?"
Rosalie, sichtlich genervt von der offensichtlichen Frage, zwang sich zu einem höflichen Lächeln und verneigte sich leicht vor Cecilia, während sie versuchte, ihr Unbehagen zu unterdrücken.
"Guten Morgen, Lady Bennett. Wie Sie sehen, möchte ich ein Kleid kaufen."
Die Schneiderin nahm ihre schmale, rechteckige Brille ab und betrachtete Rosalie von Kopf bis Fuß, während ihre dunklen Augen jedes Detail genau zu erfassen schienen. Nach einem scheinbar endlosen Augenblick ließ Cecilia einen enttäuschten Seufzer los und sagte dann nachlässig,
"Suchen Sie vielleicht ein Kleid für das anstehende kaiserliche Festbankett? In diesem Fall muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich bereits vollständig ausgebucht bin."
Rosalie war weder überrascht noch fühlte sie sich beleidigt durch Lady Bennetts ungastliche Antwort. Ehrlich gesagt hätte sie lieber ein preisgünstigeres Kleid erstanden, um derartige Herabsetzungen zu vermeiden, doch fürchtete sie die Reaktion ihres Vaters und fand sich damit ab, die notwendige Demütigung zu ertragen. Immerhin war verbale Abfertigung noch ihr geringstes Problem.
"Ich verstehe. Könnten Sie mir dann vielleicht einige der Kleider zeigen, die Sie auf Lager haben? Ich benötige keine Anpassungen; ich nehme, was mir passt."
Rosalie rechnete bereits mit einer weiteren abschätzigen Bemerkung – ihr schlanker Körperbau veranlasste die Adelsdamen regelmäßig zu dem Gerücht, sie sei aus finanziellen Gründen unterernährt. Doch zu ihrer Überraschung wurde ihr Anliegen diesmal ohne weitere Schmähungen erfüllt.
Cecilia wies Lady Ashter und ihre Zofe an, ihr in die hinterste Ecke des Ladens zu folgen, und legte ihre schmale, leicht knochige Hand auf eine der Schaufensterpuppen, ihr Gesicht noch immer leicht verärgert.
"Dies sind die einzigen drei fertigen Kleider, die Ihnen womöglich passen könnten, Lady Ashter. Die Umkleidekabine befindet sich rechts von Ihnen am Tresen."
Nach einem letzten abschätzigen Blick verschwand die Schneiderin wieder im Hinterzimmer, während Rosalie weiterhin still in ihre Richtung blickte.
'Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Kleider abzunehmen... Ach, egal, lassen wir das schnell hinter uns und gehen.'***
Aurora sammelte die Kleidungsstücke geschickt ein und machte sich zügig auf den Weg in eine der Umkleidekabinen neben der Ladentheke, wobei sie etwas Scharfes vor sich hin murmelte. Währenddessen erkundete Lady Ashter eifrig die exquisite Schönheit der Kleider, Blusen, Röcke und Accessoires. Sie ließ sich Zeit, um die Pracht zu bewundern, bis die leicht ungeduldige Stimme des Dienstmädchens sie dazu zwang, die Anprobe zu betreten.
"Dass sie die Frechheit besitzt, dir diese ausrangierten Kleider zu geben! Sieh dir nur die Nähte in diesem an, wenn man das sehen würde, würde man denken, du hättest das Kleid gemacht und nicht die berühmteste Schneiderin der Hauptstadt!"
"Schon gut, Aurora, die Leute würden über mich reden, egal was ich trage, also lass mich doch einfach mal etwas ausprobieren."
Wie zur Unterstützung von Rosalies Worten drang eine plötzliche Welle lebhaften Frauengeplauders in die Anprobekabine und brachte eine Kakophonie harter Worte mit sich, die nicht zu der lieblichen Melodie der Stimme passte, die sie aus dem Mund ihrer Besitzerinnen trug.
"Was in aller Welt hat sie sich dabei gedacht, hierher zu kommen? Hat sie denn überhaupt kein Schamgefühl?"
"Das müsst Ihr mir nicht sagen, Lady Juliana, ich war so schockiert, als ich sie in meinem Laden stehen sah! Wenn ich nicht so fassungslos wäre, hätte ich sie wie eine einfache Bürgerliche rausgeschmissen!"
Dank Cecilias rücksichtsloser Antwort erkannte Rosalie, dass es sich bei der Frau, mit der sie sprach, um Juliana Elsher handelte, die älteste Tochter des Grafen Elsher, eines der reichsten Kaufleute des ganzen Reiches, der seit Jahren mit Cecilia Bennett gut befreundet war und ihr die Unterstützung und den Erfolg ihres Geschäfts sicherte.
Juliana war eine renommierte Gesellschaftsdame, deren Anwesenheit bei jeder Zusammenkunft begehrt war, nicht nur wegen ihres hohen Status und ihres Prestiges, sondern vor allem wegen ihrer messerscharfen Zunge, die immer wieder neuen Klatsch und Tratsch hervorbrachte. Ihre Fähigkeit, unabhängig vom Anlass für ständige Unterhaltung zu sorgen, machte ihre Gesellschaft sehr begehrt.
"Haben Sie schon gehört, Lady Cecilia? Lord Raphael Ashter wird seine Jagdbeute auch in diesem Jahr seiner Schwester schenken. Ehrlich gesagt, ein so liebevoller und fürsorglicher Bruder hat eine Schwester wie sie nicht verdient! Sie gibt vor, bescheiden und gehorsam zu sein, aber das ist alles nur gespielt, um unschuldige Männer zu verführen, während Lord Raphael seine Zeit damit vergeuden muss, den Schlamassel aufzuräumen, der durch ihr dummes Verhalten verursacht wurde."
"Man sagt, Lord Raphael habe seine eigene Heirat aufgeschoben, weil er sichergehen will, dass seine Schwester in eine große Familie verheiratet wird, aber mein Mann hat mir einmal erzählt, dass unter den Herren, die im Tulpensaal verkehren, das Gerücht kursiert, Lord Raphael würde Rosalies potenzielle Verehrer aus dem Weg räumen, weil er selbst heimlich nach ihr giert!"
Aurora riss die Augen auf, ihr Gesicht war blass vor Schreck und Zorn, aber Rosalie blieb stoisch und unbeeindruckt. Der "Tulip Room" war ein von Marquess Stainhem gegründeter und geleiteter Herrenclub, und da keine Frau, außer Kurtisanen, ihn betreten durfte, war die Dreistigkeit der Dinge, die hinter den verschlossenen Türen des Clubs besprochen wurden, nicht wirklich überraschend.
"Diese giftigen Schlangen... Sie reden absichtlich so laut, damit Sie sie hören, Lady Rosalie! Was für eine Schande!"
Rosalie schenkte ihrer Zofe ein subtiles, nonchalantes Lächeln und zuckte mit den Schultern.
"Es hat keinen Sinn, sich über solche wertlosen Gespräche aufzuregen. Lass mich nur noch ein letztes Kleid anprobieren und dann gehen."
Aurora konnte sich einen Seufzer nicht verkneifen. Die bemerkenswerte Unverwüstlichkeit ihrer Frau war eine bewundernswerte Eigenschaft, aber sie war auch die Ursache für ihren unermesslichen Kummer. Entschlossen, Rosalie zu unterstützen, half sie ihr bei den Kleidern und füllte den Anproberaum mit ihrem eigenen geistlosen Geplapper, um die Aufmerksamkeit ihrer Dame von dem lästigen Klatsch und Tratsch abzulenken, der im Salon der Boutique kursierte, und Rosalie empfand insgeheim ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Aurora für diese fürsorgliche Geste.
"Das hier. Lass uns dieses Kleid kaufen, es passt mir am besten und du musst dich nicht mit der Anprobe abmühen."
Als sie endlich mit der Anprobe fertig waren, zeigte das Mädchen auf das lange karmesinrote Kleid mit einem eleganten Korsett, das mit goldener Spitze verziert war und das sie als erstes anprobierte. Aurora wollte es gerade holen, als sie innehielt, den Blick auf die Tür der Anprobekabine geheftet und mit leicht besorgter Miene.
"Aber, Mylady... Findet Ihr nicht, dass es da draußen ziemlich ruhig ist?"