Eine Marionette ist niemals frei. Ihre Bewegungen, ihre Gesten – alles wird gelenkt von der Hand eines Puppenspielers, der im Schatten verborgen bleibt. Sie tanzt, lacht und weint, doch kein Gedanke, keine Emotion gehört wirklich ihr. Die Fäden, unsichtbar und doch alles beherrschend, sind das Symbol absoluter Kontrolle. Der Puppenspieler sieht alles, lenkt jede Handlung, formt jede Szene. Er entscheidet, wann das Spiel beginnt und wann es endet. Eine Marionette kann sich nicht wehren, sie kann nur gehorchen – denn in den Händen des Puppenspielers ist sie nicht mehr als ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Doch was geschieht, wenn der Puppenspieler mehr als nur eine Bühne kontrollieren will? Was, wenn sein Durst nach Macht unersättlich wird und er beginnt, die Menschen wie Marionetten zu führen? In diesem Spiel gibt es nur eine Regel: Der Puppenspieler hält die Fäden – und jeder andere ist nur seine Puppe.
Es war in London. An jenem verheißungsvollen Tag schritten zwei junge Polizisten durch die regnerischen Straßen der eigentlich schönen Stadt. ,,Das ist schon der dritte Fall diese Woche. Wir sind gleich da.", sagte der Erfahrenere zum Neuling. Ein paar Minuten später standen sie vor einem großen, prächtigen Theater, das überall im Umkreis bekannt war. Während der erfahrene Polizist ohne zu zögern das Gebäude betrat, blieb der Neue ein paar Sekunden stehen, um das Gebäude zu betrachten, bevor er sich ebenfalls hineinwagte. Als das Duo den Aufführungssaal betrat, stockte dem Erfahrenen kurz der Atem. ,,Die letzten paar Wochen sah es ruhig um ihn aus, aber er wird wieder aktiver…" Kurz darauf stand auch sein Kollege im Raum, nur um von einem grotesken, ekelhaften Anblick begrüßt zu werden. Zwei junge Leute standen auf der Bühne - jedoch nicht mehr am Leben. In ihren Gesichtern war ein großes, künstliches Grinsen zu sehen, als hätte jemand ihre Gesichter in jener Form festgenäht. Der Bauch des einen Mannes war aufgeschlitzt, während die Hände des Anderen abgeschnitten wurden und auf dem Boden lagen.
,,Was zur… Wer macht so etwas…?" Der Neuling war sichtlich schockiert über den Vorfall, der jedoch kein Einzelfall war. Der erfahrene Polizist holte tief Luft und rieb sich die Schläfen, bevor er sich an seinen jungen Kollegen wandte. Sein Gesichtsausdruck war ernst, seine Augen wirkten müde – nicht von der Arbeit, sondern von dem, was sie über die Jahre gesehen hatten.
„Setz dich, Rookie," sagte er und deutete auf eine der staubbedeckten Zuschauerreihen im Saal. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du die ganze Geschichte erfährst."
Der Neuling, noch immer bleich und mit zitternden Händen, gehorchte. Er ließ sich auf einen der alten, knarzenden Sitze fallen, während der erfahrene Polizist einen Moment innehielt, als müsste er seine Worte sorgfältig abwägen.
„Der Mann, den wir suchen, ein relativ bekannter Mörder. Niemand weiß, wer er wirklich ist, wie er aussieht oder warum er das tut. Alles, was wir wissen, sind seine Taten – und sie sind alles andere als gewöhnlich."
Er begann im Raum auf und ab zu gehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Es fing vor ungefähr zwei Jahren an. Der erste Fund war eine Frau in einer ähnlichen Pose wie die beiden dort." Er deutete auf die Bühne, seine Stimme klang schwer. „Grotesk lächelnd, ihre Gliedmaßen so verdreht, als wäre sie eine Puppe in den Händen eines grausamen Puppenspielers. Wir dachten damals, es wäre ein Einzelfall, ein psychotischer Ausbruch eines Wahnsinnigen."
Der Neuling schluckte hart, wagte aber eine Frage. „Und… war es das nicht?"
Der erfahrene Polizist schnaubte und blieb stehen. „Nein. Wochen später fanden wir den nächsten. Dann noch einen. Immer dieselbe Handschrift: grotesk inszenierte Leichen, immer in Theatern, Opernhäusern oder anderen Orten, die mit der Bühne zu tun haben. Es war, als würde er eine Botschaft senden – aber welche, das wissen wir bis heute nicht."
Er lehnte sich gegen eine der verstaubten Wände, die Augen auf die Bühne gerichtet. „Die Presse gab ihm den Namen 'Puppeteer', und er schien es zu genießen. Seine Inszenierungen wurden aufwendiger, seine Morde grausamer. Manchmal ließ er uns kleine… Hinweise zurück. Eine Marionette, handgeschnitzt, mit eingravierten Initialen oder Symbolen, die wir nicht entziffern konnten. Es ist, als würde er uns in ein Spiel verwickeln – ein Spiel, in dem er die Regeln macht."
Der Neuling runzelte die Stirn, sein Atem ging schneller. „Und… und wir haben keine Ahnung, wer er ist? Keine Spur?"
Der erfahrene Polizist schüttelte den Kopf. „Nur Vermutungen. Manchmal denken wir, wir wären ihm nah, aber dann…" Er machte eine weitreichende Geste. „Dann passiert so etwas wie hier. Er ist uns immer einen Schritt voraus. Es ist, als würde er uns mit Absicht hinlocken, nur um zu zeigen, dass wir nichts gegen ihn ausrichten können."
Eine kurze, bedrückende Stille trat ein, bevor der erfahrene Polizist weitersprach, diesmal mit einem Hauch von Bitterkeit. „Ich sage dir das, Rookie, weil du verstehen musst: Der Puppeteer ist kein gewöhnlicher Serienmörder. Er ist ein Künstler des Todes, ein Meister der Manipulation. Wenn du glaubst, du bist sicher, dann hat er dich schon längst in seinen Fäden gefangen."
Der Neuling schaute auf die Bühne, wo die beiden grotesk lächelnden Leichen standen, und fühlte ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust. Es war, als ob die leeren Augen der toten Körper ihn anstarrten, als wollten sie ihn warnen.
„Und was… was tun wir jetzt?" fragte er schließlich mit unsicherer Stimme.
Der erfahrene Polizist trat näher an die Bühne heran, seine Schultern angespannt. „Wir machen, was wir immer machen. Wir suchen nach einem Hinweis, einem Fehler. Irgendetwas, das uns zu ihm führt." Er blieb stehen und sah seinem jungen Kollegen in die Augen. „Aber sei gewarnt, Rookie: Wenn du in seinen Bann gerätst, lässt er dich nicht mehr los."
Der erfahrene Polizist richtete sich auf und sah sich mit zusammengekniffenen Augen im Raum um, als hätte er etwas vergessen. „Und noch etwas...", murmelte er, während er mit prüfendem Blick den Boden absuchte. „Hier irgendwo müsste es sein."
Der Neuling runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?"
Der erfahrene Polizist bewegte sich zielstrebig auf die Bühne zu, bückte sich schließlich und zog etwas unter einem umgestürzten Scheinwerfer hervor. Es war ein Stück Papier, sorgfältig zusammengefaltet und mit einem roten Wachssiegel versehen. Der Polizist betrachtete es kurz, bevor er es langsam öffnete.
„Das hier." Seine Stimme war angespannt, beinahe gereizt, als er das Papier auseinanderfaltete. Es war ein aufwendig geschriebenes Skript, in feiner, kalligraphischer Schrift. Der Titel lautete: „Der Tanz der Marionetten – Akt IV".
Der Neuling trat näher heran, und der erfahrene Polizist begann vorzulesen:
„Zwei Seelen, gefangen in der Illusion des Lebens, tanzen ihren letzten Tanz. Ihre Fäden durchtrennt, ihr Wille ausgelöscht. Der eine zahlte den Preis für Verrat, der andere für seine Lügen. Die Bühne ist bereitet, das Publikum zufrieden. Und der Puppenspieler? Er lacht."
Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus, während der Neuling das Gelesene zu begreifen versuchte. „Was… ist das?" flüsterte er schließlich.
Der erfahrene Polizist faltete das Skript zusammen und ließ es in eine Plastiktüte gleiten. „Das ist seine Handschrift. Er hinterlässt immer so ein Skript. Jeder Mord ist wie ein Theaterstück, ein Teil eines größeren Plans, den nur er versteht. Es beschreibt genau, was mit den Opfern passiert ist – und warum."
Der Neuling schluckte schwer. „Er… er hat das alles geplant? Bis ins kleinste Detail?"
Der erfahrene Polizist nickte langsam, seine Augen unverwandt auf das Skript gerichtet. „Bis ins letzte Detail. Jeder Mord hat eine Bedeutung. Er gibt uns die Geschichte, die wir verstehen sollen – aber nie die, die wir wirklich brauchen, um ihn zu finden. Es ist sein Spiel, und er ist der Regisseur."
Der Neuling fühlte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. „Was war der Grund für diese beiden? Warum hat er sie… so zugerichtet?"
Der erfahrene Polizist hielt inne, studierte das Skript erneut und las leise vor: „‚Der eine zahlte den Preis für Verrat… der andere für seine Lügen.'" Er sah den Neuling mit düsterer Miene an. „Vielleicht waren sie miteinander verbunden. Vielleicht hat einer von ihnen etwas getan, das den Puppeteer gereizt hat. Wir wissen es nicht genau – aber ich bin mir sicher, dass er uns genau das mitteilen wollte."
Er steckte das Skript in seine Tasche und wandte sich zur Tür. „Das ist seine Botschaft. Er will, dass wir zuschauen, wie er die Fäden zieht. Und wenn wir nicht aufpassen, Rookie…" Er hielt inne und sah seinen jungen Kollegen an. „…dann sind wir vielleicht die Nächsten, die auf seiner Bühne enden."
Der Neuling sah erneut zur Bühne, zu den grotesk grinsenden Leichen, und fühlte eine eisige Kälte in seinem Rücken aufsteigen. Es war, als könnte er die unsichtbaren Fäden spüren, die über allem schwebten – Fäden, die der Puppeteer nur allzu bereit war, in Bewegung zu setzen.
Schritte hallten in der Stille nach, als der Regen auf die verlassenen Straßen Londons prasselte. Ein Mann zog seinen Mantel enger, der Stoff war vom Regen durchnässt, doch er bemerkte es kaum. Sein Blick war geradeaus gerichtet, doch seine Gedanken kreisten um etwas, das weit hinter ihm lag – und vor ihm.
Er bog in eine Seitenstraße ein, wo die Lichter der Stadt nur noch schemenhaft durch den Nebel schimmerten. Dort blieb er stehen. Sein Atem stockte, als er vor sich die Silhouette eines Gebäudes erkannte, das sich in der Dunkelheit abzeichnete.
Das Theater.
Das verlassene Gebäude wirkte wie ein Mahnmal, ein Relikt aus einer anderen Zeit. Seine steinerne Fassade war vom Regen und Alter gezeichnet, doch die Symbolik, die es trug, war lebendig. Die Fenster starrten ihn an wie tote Augen. Der Eingang, halb verborgen im Schatten, schien ihn lautlos zu verhöhnen.
Der Mann verharrte, die Hände in den Manteltaschen verborgen. Sein Blick wanderte langsam über die zersplitterten Schriftzüge über dem Eingang, die kaum noch zu lesen waren. Doch er wusste, was sie einst verkündet hatten. "Das Reich der Bühne – eine Welt voller Illusionen und Wahrheit." Eine Welt, in der einst Träume lebendig wurden – und nun Albträume herrschten.
Die Bilder kamen zurück. Das Lachen. Das Licht. Dann der Schrei. Er spürte, wie sich seine Brust zusammenzog, wie Wut ihn durchströmte, heiß und unnachgiebig. Sein Atem beschleunigte sich, während die Erinnerungen wie ein Sturm in ihm tobten.
Er trat einen Schritt vor, nur um stehen zu bleiben. Seine Hände ballten sich in den Taschen zu Fäusten, seine Kiefer mahlten vor unterdrücktem Zorn.
„Du glaubst, du kannst einfach weitermachen…" murmelte er leise, seine Worte von der Dunkelheit verschluckt. „Du glaubst, du kannst dich verstecken. Mich herausfordern. Mich verspotten." Seine Stimme wurde fester, sein Ton schärfer. „Aber das kannst du nicht. Ich werde dich finden. Ich werde jeden deiner verdammten Fäden durchtrennen."
Sein Blick wanderte ein letztes Mal über das Gebäude. Ein Teil von ihm wollte hineingehen, die Dunkelheit durchbrechen, ihn vielleicht endlich stellen – aber er wusste, dass das Theater heute leer war. Nicht das Theater war sein Feind. Es war der Schatten, der die Bühne beherrschte.
„Das ist nicht vorbei," sagte er, diesmal lauter, als spräche er direkt zum Puppeteer. Seine Stimme war ein Versprechen. „Es hat gerade erst begonnen. Ich werde dich höchstpersönlich umbringen. Das schwöre ich bei meinem Namen - Cedric Ashwell!"
Der Mann wandte sich ab, seine Schritte hallten erneut auf dem Kopfsteinpflaster wider. Der Regen fiel schwerer, während er in der Dunkelheit verschwand. Doch die Wut in ihm, die Entschlossenheit, war wie ein Feuer, das kein Sturm löschen konnte.