Falls es eine olympische Disziplin für emotionale Kälte gäbe, würde meine Stiefmutter Gold holen. Jedes Mal. Mit Weltrekord. Viktoria – ja, ich nenne sie beim Vornamen, weil „Mama" oder auch nur „Mutter" bei ihr ungefähr so unpassend wäre wie ein Kuscheltier in einem Horrorfilm – ist die Sorte Frau, die mit einem einzigen Blick Menschen zum Zittern bringt. Sie hat perfekte blonde Haare, die immer so liegen, als hätte sie einen persönlichen Windmaschinen-Assistenten. Sie trägt keine Klamotten, sie trägt Statement-Outfits. Und sie betritt einen Raum nicht einfach – sie erscheint. Das Problem ist: Wenn man ihr Kind ist, oder in meinem Fall zumindest halb so was Ähnliches wie ihr Kind, dann bekommt man von dieser ganzen Coolness genau gar nichts ab. Stattdessen kriegt man ihr strenges Pokerface, ihre messerscharfen Kommentare und das ewige Gefühl, dass man irgendwie nur ein unerwünschter Fleck auf ihrem ansonsten makellosen Leben ist.
Natürlich hat sie nicht immer so getan, als wäre ich Luft. Früher, als mein Vater noch lebte, war sie zwar auch schon distanziert, aber immerhin höflich. Sie spielte die perfekte Ehefrau, die perfekte Mutter, die perfekte Gastgeberin bei ihren Dinnerpartys, bei denen ich als Kind still in der Ecke sitzen und nett lächeln musste, während sie sich mit anderen glänzend manikürten Frauen über Dinge unterhielt, die für mich klangen wie die Beschreibung einer sehr teuren Tapete. Aber dann starb mein Vater. Einfach so. Herzinfarkt. Ein Tag war er noch da, am nächsten nicht mehr. Und mit ihm verschwand auch der letzte Funken an Wärme, den Viktoria jemals für mich übrig hatte. Seitdem bin ich für sie nicht mehr als eine Verpflichtung, eine Erinnerung an einen Fehler in ihrem sonst so durchgestylten Leben. Ich gehöre nicht in ihre perfekte Welt aus Designermöbeln und Karriereplänen. Ich bin die unerwünschte Randnotiz, das hässliche Entlein, das nicht in ihren Hochglanz-Familienauftritt passt. Und das lässt sie mich jeden einzelnen Tag spüren. Heute zum Beispiel. Ich sitze am Küchentisch und versuche, mein Müsli zu essen, ohne mit jemandem zu reden. Es ist eine bewährte Strategie: Wenn man sich unsichtbar macht, kann man keine Befehle bekommen. Aber Viktoria hat mich schon entdeckt. Sie taxiert mich mit diesem Blick, den sie immer aufsetzt, wenn sie sich fragt, wie zum Teufel sie mit mir biologisch verwandt sein kann. „Ella, könntest du vielleicht einmal in deinem Leben darauf achten, wie du dich hinsetzt?" Ich zucke mit den Schultern. „Ich sitze doch." „Nein, du lümmelst." Ich kaue demonstrativ langsam an meinem Löffel vorbei und lasse ihn mit einem kleinen Klonk gegen meine Schüssel fallen. Viktoria atmet hörbar aus, als müsse sie ihre ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um mich nicht direkt vor die Tür zu setzen. „Hör zu, Ella", beginnt sie mit ihrer kühlen, perfekt modulierten Stimme. „Ich weiß, dass du es für witzig hältst, dich wie ein rebellischer Teenager zu verhalten, aber irgendwann musst du erwachsen werden. Und zwar jetzt."
Ich blinzle sie an. „Jetzt? Sofort? Soll ich mir ein Klemmbrett holen und eine Powerpoint-Präsentation über meine neuen Erwachsenenpläne machen?" Sie ignoriert mich. „Heute Nachmittag gehen wir Kleider anprobieren." „Ähm. Nein." „Doch." „Wofür?" „Für den Ball." Ich starre sie an, als hätte sie mir gerade gesagt, dass wir zum Mond fliegen. „Welchen Ball?" „Den Ball."
Oh. Den Ball. Den mit dem Prinzen.
Natürlich. Ich habe davon gehört, aber ich habe es erfolgreich verdrängt. Angeblich lädt irgendein reicher Schnösel die gesamte obere Gesellschaftsschicht des Landes zu einer glitzernden Veranstaltung ein, um sich – und jetzt kommt's – eine Freundin zu suchen. Oder eine zukünftige Ehefrau. Oder einfach ein bisschen Unterhaltung, wer weiß das schon. Ich hatte gehofft, dass ich mit dem Thema nichts zu tun haben müsste. Aber offensichtlich habe ich mich zu früh gefreut. „Ich gehe nicht", sage ich entschlossen. „Doch, das wirst du." „Nein. Wirklich nicht." „Ella." Ihre Stimme klingt gefährlich ruhig. „Ich werde nicht mit dir diskutieren. Wir werden alle hingehen. Du wirst dich benehmen, du wirst ein anständiges Kleid tragen, du wirst nicht wieder in diesen schrecklichen Turnschuhen aufkreuzen, und du wirst dich zusammenreißen." „Oder was?" Ich verschränke die Arme. „Schmeißt du mich raus?" Sie hebt die Augenbrauen. „Wenn du unbedingt wissen willst, wie es sich anfühlt, ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf dazustehen – gerne. Ich kann es einrichten." Ich presse die Lippen zusammen. Viktoria ist nicht die Sorte Mensch, die Drohungen einfach so ausspricht. Sie meint das ernst. „Du wirst mitkommen", sagt sie und nimmt sich ihre Tasse Tee, als sei unser Gespräch bereits beendet. „Und damit ist das Thema durch." Ich würde ihr so gerne sagen, was ich von ihr und ihren dämlichen Bällen halte. Ich würde ihr so gerne entgegenschleudern, dass sie mich nicht zwingen kann, in ihr falsches, lächerliches Leben zu passen. Aber ich tue es nicht. Weil ich weiß, dass es nichts bringt. Also stehe ich auf, schnappe mir meine Tasche und gehe ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. Ich werde also zu diesem verdammten Ball gehen. Aber wenn sie glaubt, dass ich mich einfach so in ihr perfektes Märchenpressbild fügen werde, dann hat sie sich geschnitten.
Game on, Viktoria.