Es gibt Tage, an denen man aufwacht und ahnt, dass etwas Schreckliches passieren wird. So ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass sich wie eine unterschwellige Warnung anfühlt.
Heute ist genau so ein Tag. Ich weiß es in dem Moment, als ich mein Handy einschalte und von einem Dutzend Benachrichtigungen erschlagen werde. Nachrichten, Erwähnungen, Likes – mein Bildschirm sieht aus, als hätte jemand beschlossen, mein komplettes Leben in die sozialen Medien zu zerren. Mit zusammengekniffenen Augen öffne ich Instagram. Und da ist es. Ein Video. Ein Video, in dem ich im Café stehe, mein Gesicht genervt verziehe und gerade einem besonders anstrengenden Kunden seinen dämlichen überkomplizierten Kaffee reiche. Über mir prangt der Text:
„Unsere Schwester, die Barista – so bodenständig, so süß! #LittleElla #CinderellaInChucks #KeepItReal"
Mir bleibt fast die Luft weg. Livia und Sophia. Natürlich. Sie haben mich ohne mein Wissen gefilmt, das Ganze mit irgendwelchen idiotischen Hashtags versehen und es in die Welt hinausgeschickt. Ich scrolle durch die Kommentare.
„Awww, ich liebe es, wenn reiche Mädels so tun, als würden sie arbeiten!"
„Wie süß! Aber warum sieht sie so mürrisch aus? XD"
„Also, wenn meine Schwestern so wären, würde ich mich schämen…"
Ich schmeiße mein Handy aufs Bett, presse mir die Hände ins Gesicht und atme tief durch. Hashtag. Hilfe. Es ist nicht nur peinlich – es ist verrat. Ich meine, wer macht so was? Wer benutzt seine eigene Schwester als Social-Media-Material, ohne sie auch nur zu fragen? Ich brauche eine Sekunde, um mich zu sammeln, dann marschiere ich nach unten. Livia und Sophia sitzen wie immer auf der Couch, ihre Handys in der Hand, kichernd über irgendein Video. „Ihr seid nicht euer Ernst", sage ich, meine Stimme gefährlich ruhig.
Livia sieht auf. „Oh, du hast es gesehen?" „Natürlich habe ich es gesehen! Mein Handy hat sich angefühlt, als würde es explodieren!"
Sophia verdreht die Augen. „Stell dich nicht so an. Es ist nur ein harmloses Video." „Harmlos? Ihr habt mich ohne meine Erlaubnis gefilmt und ins Internet gestellt!" „Oh mein Gott, chill mal, Ella", sagt Livia und winkt ab. „Das ist Werbung für dich! Wir machen dich berühmt." „Ich WILL nicht berühmt werden!" „Doch, klar." Sophia grinst. „Jeder will berühmt werden." Ich reiße die Arme hoch. „Nein. Nicht jeder. Nicht jeder will sein Leben in hässlichen Hashtags zusammengefasst haben. Nicht jeder will analysiert und beurteilt werden von Leuten, die ihn nicht mal kennen!" Livia schnaubt. „Boah, du bist echt empfindlich." „Das ist nicht empfindlich, das ist NORMAL!" „Du solltest dankbar sein", mischt sich Sophia wieder ein. „Wir haben dein Image aufpoliert. Vorher warst du nur irgendein niemand, und jetzt reden die Leute über dich." „Ich will nicht, dass die Leute über mich reden!" „Das glaubst du jetzt", murmelt Livia und tippt weiter auf ihrem Handy. „Warte mal ab. Das wird nur noch größer." Mein Magen zieht sich zusammen. „Wie meinst du das?" Sophia hält mir ihr Handy hin. „Hier, sieh selbst." Ich nehme es zögernd entgegen – und dann sehe ich, was sie meint. Mein Name. Mein Gesicht. Überall. Auf TikTok. Auf Twitter. Auf Instagram.
Memes, Clips, Kommentare.
„Cinderella in Chucks – die Schwester, die keiner kannte!"
„Die Anti-Prinzessin – und sie geht zum Ball!"
„Vergesst die reichen Schwestern – diese hier ist das wahre Highlight!"
Mir wird schlecht. Ich schmeiße ihr das Handy zurück. „Löscht es." Livia zieht die Augenbrauen hoch. „Bist du irre? Wir löschen doch nicht den besten Content, den wir je hatten." „Es ist MEIN Leben!" „Und es ist UNSER Account. Wir entscheiden, was wir posten." Ich sehe sie an und weiß, dass ich nichts tun kann. Sie haben bereits gewonnen. Sie haben mein Gesicht und meinen Namen in ihre perfekte Instagram-Welt gezogen, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Hashtag: Hilfe.