Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Diejenigen, die an Märchen glauben – und diejenigen, die wissen, dass das Leben meistens eher wie eine schlecht geschriebene Reality-Show abläuft. Ich gehöre zur zweiten Kategorie. Nicht, dass ich Märchen nicht mögen würde. Ich meine, die Idee ist nett: Magische Helfer, wunderschöne Prinzessinnen, ein perfekter Prinz, der zufällig genau im richtigen Moment auftaucht, um dich aus deinem Elend zu befreien. Das ist doch großartig, oder? Oder, und das ist wahrscheinlicher: Eine völlig realitätsferne Fantasie, die Generationen von Menschen eingeredet hat, dass Frauen nur hübsch genug sein müssen, um gerettet zu werden, und Männer einfach nur gut aussehen und reich sein müssen, um automatisch die Welt zu regieren.
Nicht gerade die Botschaft, mit der ich aufgewachsen bin. Stattdessen bin ich mit einer Stiefmutter aufgewachsen, die den Begriff „harte Liebe" ein bisschen zu wörtlich nimmt, und mit zwei Stiefschwestern, die ihre Daseinsberechtigung darin sehen, ihre gesamte Existenz in Social-Media-Posts zu verwandeln. Ach ja, und falls sich jetzt jemand fragt: Nein, ich bin nicht adoptiert. Ich bin biologisch mit dieser völlig dysfunktionalen Familie verbunden. Mein Vater – der einzige Mensch, der mich jemals wirklich verstanden hat – hatte vor ein paar Jahren die grandiose Idee, zu sterben und mich mit diesen Menschen allein zu lassen. Nicht gerade der Held, der mich aus diesem Elend befreit, oder?
Also, hier sind wir: Ich, Ella, 19 Jahre alt, unfreiwilliges Aschenputtel dieser modernen Märchenhölle. Ich verbringe meine Tage damit, in einem winzigen, überfüllten Café zu arbeiten, in dem Kunden denken, dass ein „Bitte" und „Danke" optional sind. Meine Nächte verbringe ich damit, Hausarbeiten zu erledigen, weil meine Stiefmutter es für unter meiner Würde hält, in einem „ordinären Studentenwohnheim" zu leben. Also, Überraschung: Ich wohne immer noch zu Hause. Und ja, das ist genauso schrecklich, wie es klingt. Jeden Morgen wache ich auf und frage mich, ob es irgendwann einen Punkt geben wird, an dem sich alles ändert. Ob irgendwann eine magische Fee auftaucht und sagt: „Hey, Ella, sorry für die letzten Jahre, hier ist ein Job, den du liebst, eine Wohnung, die du dir leisten kannst, und ein Leben, das dich nicht jeden Tag an den Rand des Wahnsinns treibt."
Spoiler: Sie taucht nicht auf. Stattdessen weckt mich heute Morgen die sanfte, liebevolle Stimme meiner Stiefmutter: „Ella, steh endlich auf! Du siehst jetzt schon aus wie ein Wrack, musst du das noch schlimmer machen?" Ich grummele irgendetwas Unverständliches und vergrabe mich tiefer unter meiner Decke. Vielleicht, wenn ich mich tot stelle, lässt sie mich in Ruhe. „Ella!" Okay, offensichtlich nicht. Ich reiße die Augen auf, nur um festzustellen, dass meine Stiefmutter in meiner Zimmertür steht – mit ihrer typischen, perfekt gestylten Frisur und ihrem strengen Blick, der mir jedes Mal das Gefühl gibt, ich sei ein fehlerhaftes Produkt, das man zurückgeben würde, wenn es eine Quittung gäbe. „Steh auf. Jetzt. Und zieh dir was Vernünftiges an. Wir haben heute einen wichtigen Termin." Ich blinzele sie an. „Wichtiger Termin? Heißt das, ihr habt einen weiteren Schönheitschirurgen gefunden, der bereit ist, eure Nasen für einen Rabatt zu richten?" „Sehr witzig." Sie verdreht die Augen. „Nein, es geht um den Ball." „Welchen Ball?" „Den Ball."
Ich starre sie an. Dann begreife ich. „Oh nein. Nein, nein, nein. Vergiss es. Ich werde nicht zu irgendeinem peinlichen Debütantinnen-Ball gehen, nur damit ihr mich als eure hässliche Begleitung präsentieren könnt." „Ella, übertreib nicht." Sie seufzt, als wäre ich der nervigste Mensch auf dem Planeten. (Vielleicht bin ich das in ihrer Welt auch.) „Es ist DER Ball. Vom Prinzen. Und wir werden hingehen. Alle." „Warte. Halt. Moment." Ich richte mich im Bett auf. „Der Typ schmeißt ernsthaft einen königlichen Ball, um sich eine Freundin zu suchen? Ist das ein Casting oder was?" „Ella…" „Und er kann sich nicht einfach bei Tinder anmelden oder so?" „Ella!" „Oder eine Dating-Show drehen? ‚Der Bachelor', aber mit mehr Glamour und weniger Rosen?" „Bist du fertig?" Sie stemmt die Hände in die Hüften. „Noch nicht, aber ich komme zum Punkt: Ich. Gehe. Nicht." „Doch. Tust du." „Nein." „Ella, du hast nicht wirklich eine Wahl." Ich schnaube. „Ach, und warum nicht?" „Weil ich es sage." Oh, natürlich. Die ultimative Logik. Ich rolle mit den Augen. „Du wirst dabei sein", fährt sie fort, als wäre unser Gespräch bereits entschieden. „Und du wirst dich benehmen. Keine dummen Kommentare, kein Sarkasmus, kein Versuch, alles mit deiner üblichen Tollpatschigkeit zu ruinieren. Wir haben ein Image zu wahren." „Euer Image vielleicht", murmele ich. „Unser Image", korrigiert sie mich scharf. „Und du wirst ein Kleid tragen. Und Make-up. Und dich wie eine Dame verhalten. Und falls du auch nur einen Moment daran denkst, irgendeine Szene zu machen oder dich daneben zu benehmen, kannst du deine Sachen packen und auf der Straße leben. Hast du mich verstanden?" Ich beiße mir auf die Lippe. Sie meint es ernst. Ich könnte widersprechen. Könnte mich dagegen wehren. Aber wenn ich eines über meine Stiefmutter weiß, dann ist es, dass sie immer gewinnt. Also nicke ich. Langsam. „Gut", sagt sie zufrieden. „Dann zieh dich an. Wir haben eine Menge vorzubereiten." Sie dreht sich um und geht, ihre hohen Absätze klacken laut auf dem Boden.
Ich lasse mich zurück auf mein Kissen fallen und starre die Decke an. Ein königlicher Ball. Ernsthaft. Ich bin mir nicht sicher, was lächerlicher ist: Dass meine Familie tatsächlich glaubt, der Prinz könnte sich für sie interessieren – oder dass irgendjemand glaubt, dass ich mich in ein glitzerndes Kleid stecken und für einen reichen, arroganten Typen den perfekten Auftritt hinlegen werde. Märchen? Ja, klar.