Die Morgenluft war kühl, und ein leichter Nebel hing über dem Wald, als Luan sich durch die Bäume bewegte. Er war vor Sonnenaufgang aufgebrochen, ohne Kael oder Nina Bescheid zu geben. Sie würden versuchen, ihn aufzuhalten, ihn überzeugen, dass er noch nicht bereit war. Aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Das Amulett zog an ihm, ein ständiges Flüstern in der Tiefe seines Geistes. Er konnte es nicht ignorieren, nicht länger. Wenn Ridley es nutzen wollte, um das Gleichgewicht zu zerstören, musste Luan ihn aufhalten – und das bedeutete, dass er endlich verstehen musste, wer er wirklich war.
Er erreichte einen alten, verlassenen Pfad, der tiefer in den Wald führte. Kael hatte ihm von diesem Ort erzählt, einem heiligen Platz für Wölfe, an dem das Gleichgewicht zwischen Mensch und Tier stärker spürbar war. Der Weg war mit Moos überwuchert, und die Bäume wirkten uralt, ihre Äste wölbten sich wie Schutzschilde über ihm. Jeder Schritt ließ das Flüstern lauter werden, und Luan spürte, wie der Wolf in ihm erwachte, seine Präsenz stärker als je zuvor.
»Zeig mir, was ich tun muss«, flüsterte er. Der Pfad endete an einer kleinen Lichtung, die von Felsen umgeben war. In der Mitte stand eine große Statue, geformt aus einem einzigen, schwarzen Stein. Sie zeigte einen Wolf mit erhobenem Kopf, seine Augen auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet. Luan näherte sich der Statue, sein Atem ging schneller. Die Luft um sie herum war schwer, fast elektrisch, und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Er wirbelte herum, seine Instinkte schärfer als je zuvor, doch es war nur Kael.
»Ich wusste, dass du hierherkommst«, sagte Kael leise. Luan atmete tief durch. »Du hättest mich nicht aufhalten können.«
Kael nickte langsam. »Ich weiß. Deshalb bin ich hier. Du wirst diesen Weg nicht allein gehen.« Luan zögerte, doch er wusste, dass er Kaels Hilfe brauchte. Gemeinsam traten sie näher an die Statue heran, und Luan legte zögernd eine Hand auf den Stein. Ein Schwall aus Bildern durchströmte ihn, ähnlich wie in der Höhle, doch dieses Mal waren sie klarer. Er sah die ersten Wölfe, wie sie Seite an Seite mit Menschen kämpften, die Bündnisse, die sie schlossen, und den Moment, als das Amulett geschaffen wurde. Dann sah er Ridley, sein Gesicht verzerrt vor Hass, wie er das Amulett in die Hände nahm. Die Energie, die daraus floss, war dunkel, zerstörerisch. Und schließlich sah er sich selbst – wie er zwischen Mensch und Wolf stand, das Amulett in der Hand, während um ihn herum alles in Chaos versank. Luan riss die Hand zurück, sein Atem war schwer.
»Das ist meine Aufgabe«, sagte er leise. »Ich muss das Gleichgewicht bewahren.«
Kael sah ihn lange an. »Und dafür musst du den Wolf in dir akzeptieren.« Luan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie. Ich habe Angst davor, was passieren könnte, wenn ich ihn loslasse.« Kael legte eine Hand auf seine Schulter. »Angst ist normal. Aber du kannst den Wolf nicht bekämpfen. Er ist ein Teil von dir. Akzeptiere ihn, und du wirst die Stärke finden, die du brauchst.« Luan schloss die Augen, atmete tief ein und ließ den Wolf aufsteigen. Der Schmerz kam, wie immer, als ob seine Knochen sich neu formten, doch dieses Mal war er nicht unvorbereitet. Er ließ los, kämpfte nicht dagegen an, und spürte, wie der Wolf ihn vollständig einnahm. Als er die Augen öffnete, war die Welt anders. Die Farben waren heller, die Geräusche klarer, und er konnte das Leben um sich herum spüren – die Tiere, die Bäume, den Wald selbst. Kael trat zurück, ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Jetzt bist du bereit.« Plötzlich wurde die Luft schwerer, und Luan spürte, wie sich eine dunkle Präsenz näherte. Ridley.
»Er weiß, dass wir hier sind«, sagte Kael. Luan nickte, seine Augen leuchteten im Mondlicht. »Dann holen wir ihn.«