Ein schwarzer Luxuswagen parkte hinter dem Fakultätsgebäude der Universität F. Der Fahrer stieg zuerst aus und öffnete dann die Tür der hinteren Sitzreihe. Als Erster stieg ein Mann in den Dreißigern aus. Er trug einen knackigen schwarzen Anzug, und seine schwarzen Augen waren hinter einer Brille mit goldfarbenen Rändern versteckt. Er war nicht der Typ, den man auf den ersten Blick als gutaussehend bezeichnen würde. Aber seine Ausstrahlung machte das wieder wett. Sein Wesen war rein und sanft. Wer ihn sah, konnte ihn nur als Gentleman bezeichnen.
Derjenige, der ihm folgte, zog zweifellos mehr Blicke auf sich. Der junge Mann war groß und schlank. Er trug zwar nur legere Kleidung, doch seine Ausstrahlung konnte er nicht verbergen. Sein Haar war so schwarz, dass es unter der strahlenden Sonne schon fast dunkelblau wirkte. Doch was die Leute zuerst bemerkten, wenn sie ihn sahen, waren seine Augen. Sie waren so blau, als würde man in einen wolkenlosen, strahlend hellen Himmel blicken.
Shen Yi Mu – der Herr im Anzug – war zur Universität F gekommen, weil er als Gastredner zur Abschlussfeier der Bachelorstudenten eingeladen worden war. Der Einlader war ein alter Freund, weshalb er es einfach nicht übers Herz brachte abzulehnen. Als Gründer und Präsident des führenden Gaming-Unternehmens im Land war er hochqualifiziert, an einer angesehenen Universität wie dieser zu sprechen.
Er wandte sich an seinen Neffen. Shen Ji Yun zeigte, wie immer, keinen Ausdruck auf seinem attraktiven Gesicht. Deswegen wirkte er eher wie eine perfekte, makellose Puppe und nicht wie ein Mensch. Es zerrte an Shen Yi Mus Herz, seinen Neffen so zu sehen, denn er war nicht immer so gewesen. Es gab eine Zeit, in der er wie jedes andere Kind lebhaft und ausdrucksstark war. Doch dies änderte sich vor zwölf Jahren.
Als Ji Yun acht war, passierte ein tragisches und unglückliches Ereignis, das die perfekte Welt des kleinen Jungen komplett zerstörte. Shen Yi Mus älterer Bruder – Ji Yuns Vater – verstarb. Ji Yuns Mutter erlitt einen derartigen Schock, dass sie nicht mehr in der Lage war, für ihr Kind eine richtige Mutter zu sein. Als Shen Yi Mu Ji Yun fand, wirkte er bereits wie eine ausdruckslose Puppe.
Er entschied sich, das Kind bei sich aufzunehmen, trotz des Widerstands der Familie seiner Schwägerin. Ein Blick auf seine Schwägerin genügte, um zu erkennen, dass sie nicht fähig war, ein Kind zu versorgen. Bei ihr zu bleiben, würde die seelische Wunde Ji Yuns nur vertiefen. Aber er brachte ihn auch nicht zurück in die Familie Shen, da diese ein kompliziertes, unpassendes Umfeld für ein heranwachsendes Kind war. Seitdem lebten die beiden zusammen als eine kleine Familie.
Doch Ji Yuns emotionale Entwicklung hatte sich nicht wirklich verändert. Mit den Jahren wurde er sogar noch ausdrucksloser. Shen Yi Mu begann sogar zu zweifeln, ob sein Neffe vielleicht an Gesichtslähmung litt.
Er versuchte, Ji Yun zu gesellschaftlicher Interaktion zu bewegen, indem er ihn für verschiedene Kunst-, Musik- und Sportkurse anmeldete, wo er mit anderen Kindern seines Alters in Kontakt kommen konnte. Doch das half nicht viel, denn er gab sich nicht die Mühe, mit anderen zu sprechen und verließ den Unterricht, wenn er ihm nicht gefiel. Die einzige Disziplin, die sein Interesse weckte, war Karate. Er war so gut, dass man ihn sogar ins Nationalteam einlud, was Ji Yun als zu mühsam ablehnte.
Nun war Ji Yun ganz damit beschäftigt, ihm in seiner Spielefirma zu helfen. Er entwickelte Wege, das Hauptspiel des Unternehmens ständig zu verbessern. Hätte Shen Yi Mu nicht darauf bestanden, hätte Ji Yun längst seinen Abschluss gemacht. Shen Yi Mu wollte wenigstens, dass sein Neffe ein normales Campusleben führt. Doch offensichtlich hoffte er auf ein Wunder. Denn seit er acht war, hatte sich Ji Yun nicht verändert und war immer noch die gleiche unnahbare, ausdruckslose Puppe. Der Einzige, der seiner kühlen Ausstrahlung standhalten konnte, war wahrscheinlich der junge Erbe der Familie Bai.
Shen Yi Mu seufzte nur. "Ji Yun, möchtest du mit mir zum Auditorium gehen?"Shen Yi Mu hatte seinen Neffen mitgebracht, weil dieser sich seit Tagen in das Spiel vertieft hatte, um das kommende Update als Betatester zu testen. Würde Shen Yi Mu ihn nicht dazu zwingen, herauszukommen, würde Ji Yun möglicherweise sein Zimmer während der gesamten Sommerpause nicht verlassen. Das war einfach Ji Yuns Art – wenn ihm etwas gefiel, widmete er dem seine ganze Aufmerksamkeit.
"Nein, ich werde einfach herumlaufen und warten, bis Onkel fertig ist", antwortete Ji Yun tonlos.
"In Ordnung. Ich rufe dich an, wenn ich fertig bin."
Ji Yun nickte, drehte sich um und ging davon. Shen Yi Mu sah seinem Neffen nach, schüttelte den Kopf und betrat dann das Gebäude der Fakultät.
Shen Ji Yun schlenderte über das Universitätsgelände. Viele Menschen, besonders Mädchen, konnten nicht anders, als ihn anzustarren. Doch es schien, als bemerkte er die bewundernden Blicke gar nicht. Die laute Umgebung missfiel ihm, also suchte er nach einem relativ ruhigen Ort. Er fand eine Ecke, wo nur wenige Menschen vorbeigingen. Als er einen hohen Baum erblickte, ging er darauf zu und kletterte geschickt auf den untersten dicken Ast. Dort setzte er sich hin und lehnte sich an den Baumstamm. Er hatte vor, dort eine Weile zu schlafen, doch bevor er dazu kam, hörte er unten ein Geräusch.
Er blickte hinab und sah zwei Personen. Eine davon war offensichtlich ein Student, der andere war ein Junge, der nicht älter als 13 oder 14 Jahre schien. Der Student schien den Jungen zu belästigen. Der Junge hob den Kopf und sofort verstand Shen Ji Yun, warum der Student ihn belästigte – weiche schwarze Haare, zarte weiße Haut, natürlich rosafarbene Lippen und pfirsichblütenförmige Augen. Obwohl Shen Ji Yun normalerweise nicht auf das Aussehen einer Person achtete, konnte selbst er sehen, dass der Junge ein sehr hübsches Gesicht hatte.
Der Junge versuchte zu gehen, doch der Student hielt ihn zurück. "Hey, kleiner Bruder, ignorier mich nicht."
Der Junge presste die Lippen zusammen, sein Ärger war unübersehbar. Seine weißen Wangen wölbten sich leicht. Das erste, was Shen Ji Yun in den Sinn kam, als er das sah, war: „Süßes kleines Kaninchen."
Bevor er es sich versah, war er bereits heruntergesprungen und sagte: „Du bist laut."