LUO YAN starrte den gut aussehenden Mann an, der plötzlich erschienen war. Mit seinen blauen Augen war offensichtlich, dass er nicht rein chinesischer Herkunft war. Einer seiner Elternteile musste wohl Ausländer sein. Er schien die perfekte Mischung aus Ost und West zu sein. In diesem Moment bemerkte er, dass der unangenehme Griff des Mannes vor ihm nachließ. Luo Yan ergriff sofort die Chance, seine Hand zurückzuziehen. Dann lief er so schnell er konnte auf den blauäugigen Schönling zu und versteckte sich hinter ihm.
"Großer Bruder, hilf mir. Der Typ da drüben ist gruselig", sagte er, blickte nach oben und versuchte, ängstlich und bemitleidenswert auszusehen.
Shen Ji Yun blickte auf den Hasen herab, der sich hinter ihm versteckte. Die großen, klaren und hellen Augen des Hasen, die wie Pfirsichblüten aussahen, glänzten feucht, als könnten sie jeden Moment zu weinen beginnen. Seine glatten Wangen waren leicht gerötet. Shen Ji Yuns Hand zuckte. Am liebsten hätte er ihn in die Wangen gekniffen.
"Komm schon, kleiner Bruder, was meinst du mit gruselig? Der große Bruder wollte dir nur helfen."
Luo Yan griff nach dem Saum des Hemdes des blauäugigen Mannes. "Großer Bruder..."
Shen Ji Yun sah den bemitleidenswerten Hasen noch eine Weile an, bevor er sich dem College-Typen zuwandte. "Verschwinde."
Der Typ zitterte ein wenig. Denn obwohl in der Stimme dieser Person keine Höhen und Tiefen zu hören waren, spürte er doch, dass er verprügelt werden würde, wenn er nicht ging. Das lag wahrscheinlich an diesem eiskalten Blick. Er schaute ihn an, als wäre er jemand Belangloses. Schließlich rannte der Typ sofort weg.
Luo Yan grinste beim Anblick des flüchtenden Kerls. Vielleicht sollte er das nächste Mal Pfefferspray oder einen Elektroschocker mitnehmen. Er durfte nicht vergessen, dass sein Gesicht die Art war, die von links und rechts Perverse anzog. Er ließ den Saum des jungen Mannes los und blickte zu ihm auf.
Luo Yan lächelte und sagte: "Danke, großer Bruder!"
Shen Ji Yun starrte den lächelnden Hasen an und bemerkte, wie seine Hand wieder zuckte.
Luo Yan wartete auf eine Antwort, aber der Mann blieb einfach still. Er konnte nicht erkennen, was dieser dachte, denn sein Gesicht war ausdruckslos. Er erschien fast nicht menschlich, eher wie eine schöne Porzellanpuppe. Er war wohl das, was man eine "Eisbergschönheit" nennen würde.
Doch da Luo Yan unempfindlich war, ignorierte er die Kälte des Mannes und fuhr fort zu sprechen. "Großer Bruder, könntest du mich zum Auditorium begleiten, dort wo die Abschlussfeier stattfindet? Ich habe mich von meinem kleinen Bruder getrennt. Ich habe mein Telefon nicht dabei, um ihn anzurufen, und ich möchte nicht alleine gehen. Was, wenn mich ein anderer Perverser anspricht? Bitte?", fragte er und bemühte sich, möglichst süß auszusehen.
Shen Ji Yun konnte nicht anders und kniff dem Hasen sanft in die Wange.
Luo Yan erschrak über die plötzliche Geste des Mannes. "Großer Bruder?"
Shen Ji Yun ließ die Wange des Hasen zögerlich los. "Folge mir", sagte er einfach und ging in die Richtung, die wahrscheinlich zum Auditorium führte.
Obwohl Luo Yan immer noch etwas verwirrt war über das, was der Mann zuvor getan hatte, folgte er ihm und ging an seiner Seite. "Großer Bruder, bist du ein Student hier?"
"Nein."
Luo Yan hatte nicht erwartet, dass er das tatsächlich nicht war. "Wie weißt du dann, wo das Auditorium ist?"
"Folge den Leuten.""Oh," sagte er. "Das ist tatsächlich eine sehr logische Antwort."
Bald sahen sie eine Menschenmenge, die in eine bestimmte Richtung strömte. Bevor sie weitergehen konnten, hörten sie eine vertraute Stimme Luo Yans Namen rufen. Er hielt inne und drehte sich um. Dann sah er Luo Jin auf sie zulaufen. Kaum hatte er ihn erreicht, griff Luo Jin ihn sofort an beiden Schultern.
"Wo zum Teufel bist du gewesen? Ich habe dir doch gesagt, dass du in meiner Nähe bleiben sollst! Was hast du gemacht, bist du einfach alleine losgezogen? Und warum hast du nicht mal dein Handy dabei gehabt?", schimpfte Luo Jin.
Sein Herz war immer noch erfüllt von Angst, Sorge und Panik. Als er feststellte, dass sein jüngerer Bruder plötzlich verschwunden war, war er fast verzweifelt. Schlimme Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wenn seinem jüngeren Bruder wirklich etwas Schlimmes passiert wäre, wüsste Luo Jin nicht, was er tun sollte. Vor allem, weil er die Verantwortung trug. Er würde sich das wahrscheinlich nie verzeihen.
Luo Yan zuckte zusammen, da Luo Jin seine Schultern zu fest umfasste. Er wollte sich beschweren, doch als er das panische Gesicht seines jüngeren Bruders sah, verflogen alle Beschwerden. "Es tut mir leid, Ah Jin. Es ist meine Schuld. Bitte sei nicht sauer."
Shen Ji Yun blickte auf die Hände, die die Schultern des "Kaninchens" festhielten, und eine leichte Stirnfalte erschien. Er wollte diese Hände entfernen. Doch es schien, als kenne das "Kaninchen" diesen Teenager. Deshalb sagte er nur: "Lass los. Du hältst ihn zu fest an den Schultern."
Luo Jin wurde erst auf die Anwesenheit einer anderen Person aufmerksam, nachdem Shen Ji Yun das gesagt hatte. Er sah zu dem großen, ausdruckslosen Mann mit den blauen Augen und runzelte die Stirn. "Wer sind Sie?", fragte er, lockerte aber seinen Griff an Luo Yans Schulter.
Der Mann antwortete nicht und ignorierte Luo Jin völlig. Stattdessen sah er Luo Yan an. "Dein Freund?", fragte er in Bezug auf Luo Jin.
"Er ist mein jüngerer Bruder."
Das ausdruckslose Gesicht von Shen Ji Yun bekam endlich einen kleinen Riss. "Jüngerer Bruder?" Er sah die beiden an. Abgesehen davon, dass sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen, wirkte das "Kaninchen" höchstens 14 Jahre alt. War dieser große Teenager dann erst 13 oder so?
Natürlich bemerkte Luo Yan den Ausdruck des Mannes. Er ahnte bereits, was dieser dachte. "Großer Bruder, ich bin vielleicht klein, aber ich bin schon 17! Mein Wachstumsschub steht noch bevor", erklärte er entrüstet.
17? Hatten die Eltern des "Kaninchens" ihn etwa nicht richtig ernährt? Wie konnte er nur so klein und dünn sein? Das waren Shen Ji Yuns erste Gedanken. Doch äußerlich blieb sein Gesicht weiterhin ausdruckslos.
"Yan, wer ist dieser Kerl?" fragte Luo Jin schließlich.
"Dieser große Bruder hat mir geholfen. Ich habe ihn gebeten, mich zum Auditorium zu bringen."
Luo Jin war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Wie konnte Luo Yan einfach einen wildfremden Mann um Hilfe bitten? Was, wenn dieser keine guten Absichten hatte? Er stellte sich vor seinen jüngeren Bruder und versperrte dem Mann die Sicht auf ihn. "Danke, dass du meinem Bruder geholfen hast. Jetzt kannst du gehen."
Shen Ji Yun betrachtete den Teenager nur und ignorierte seinen wütenden Blick. "Nein." Dann wandte er sich an das kleine "Kaninchen". "Ich werde mit dir gehen."
Luo Jin spürte, wie ihm die Zornesader auf der Stirn pulsierte.
Während Luo Yan zwischen den beiden hin und her blickte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie gerade einen stillen Krieg begonnen hatten.