LUO YAN saß zwischen seinem jüngeren Bruder und dem großen Bruder, den er gerade kennengelernt hatte. Sie befanden sich bereits im Auditorium, auf den Plätzen für die Familienmitglieder der Absolventen, und warteten darauf, dass die Zeremonie begann. Aus irgendeinem Grund konnte Luo Yan jedoch nicht umhin, eine gewisse Spannung zwischen den beiden Personen zu spüren, die neben ihm saßen.
Er wandte sich an den großen Bruder auf seiner linken Seite. "Großer Bruder, hast du auch ein Familienmitglied, das heute seinen Abschluss macht?", fragte er, da dieser Bruder kein Student zu sein schien und Luo Yan annahm, dass er nur deshalb hier war, weil er ebenfalls jemanden kannte, der heute seinen Abschluss machte.
"Nein."
"Dann was zum Teufel machst du überhaupt hier?", entgegnete Luo Jin unhöflich.
Der große Bruder drehte sich zu Luo Yan um und ignorierte Luo Jin vollständig. "Shen Ji Yun", sagte er anstatt zu antworten. "Mein Name."
"Oh." Also hieß er Shen Ji Yun. Luo Yan hatte fast vergessen, dass sie sich noch gar nicht richtig vorgestellt hatten. "Ich bin Luo Yan und das ist mein jüngerer Bruder, Luo Jin."
"Yan, reiche nicht einfach jedem deine Hand", sagte Luo Jin sichtlich genervt.
"Ah Jin, Bruder Ji Yun ist kein schlechter Mensch. Sei nicht so hart zu ihm", verteidigte Luo Yan den großen Bruder. Schließlich hatte Shen Ji Yun Luo Yan zuvor geholfen. Ohne ihn hätte die Geschichte mit dem Unhold wohl ein viel größeres Aufsehen erregt.
Luo Jin schnaubte nur als Antwort.
"Bruder Ji Yun", wiederholte Shen Ji Yun zufrieden, als Luo Yan ihn so nannte. "Mein Onkel ist der Ehrengastredner", offenbarte er und beantwortete damit Luo Yans anfängliche Frage.
Luo Yan nickte. Wenn der Onkel von Shen Ji Yun der Ehrengastredner war, musste er eine sehr erfolgreiche Person sein. Schließlich war die F-Universität eine der renommiertesten Universitäten des Landes. Sie würden sicherlich keinen beliebigen Geschäftsmann als Redner einladen.
Kurz darauf begann die Graduierungsfeier. Nach einer kurzen Einführung durch den Universitätspräsidenten übernahm der Vizepräsident, der den Ehrengastredner vorstellte.
"Ich heiße den Mann willkommen, der den Trend im Online-Gaming unseres Landes verändert hat. Er ist der Schöpfer des derzeit beliebtesten Online-Spiels - Arcadia. Und der Präsident und CEO von Moonlight Media. Bitte begrüßen Sie, Mr. Shen Yi Mu."
Es gab einen lauten Applaus im Publikum. Dann ging ein Mann in einem scharfen schwarzen Anzug zum Podium. Sein gepflegtes und sanftmütiges Auftreten, unterstrichen durch die goldgerahmten Brillen, verliehen ihm ein gentlemanhaftes Aussehen.
"Guten Tag an alle", begann er mit sanfter Stimme.
Luo Yans Augen leuchteten plötzlich auf. Moonlight Media war das Unternehmen, bei dem er arbeiten sollte, bevor ihn diese verdammte Topfpflanze traf. Ihr Spiel, Arcadia, war eines seiner Lieblingsspiele. Es war sogar der Grund, warum er Informatik als Hauptfach gewählt hatte. Deshalb war er so begeistert, als er im letzten Semester seines Studiums ein Jobangebot von Moonlight Media erhielt.
Doch bevor er sich darüber freuen konnte, wurde er von dieser verflixten Topfpflanze getroffen. Obwohl er nicht völlig gestorben war und ihm das Leben, das er jetzt führte, gefiel, war es dennoch frustrierend.
Jetzt, da er darüber nachdachte, hatte er Arcadia seit seiner Wiedergeburt nicht mehr besucht. Er fragte sich, was mit seinem alten Konto passiert war. Das Letzte, was er gehört hatte, war, dass Moonlight Media vor sieben Jahren eine Virtual-Reality-Version des Spiels geplant hatte. Diese war wahrscheinlich mittlerweile implementiert. Bei Moonlight Media würde das sicher von hoher Qualität sein. Vielleicht sollte er es überprüfen, wenn sie wieder zu Hause waren.
Nun stand der Präsident von Moonlight Media und der Schöpfer von Arcadia nur wenige Meter entfernt. Luo Yan konnte seine Aufregung kaum zurückhalten.
Shen Ji Yun bemerkte natürlich Luo Yans Aufregung. Wie könnte er auch nicht, wenn seine augen förmlich strahlten. "Spielst du Arcadia?", fragte er, denn das war der einzige Grund, der ihm einfiel, warum Luo Yan plötzlich aufgeregt wurde, als sein Onkel erschien."Mein Bruder spielt keine Spiele", antwortete der wortkarge jüngere Bruder.
[Ah Jin, bitte sei nicht so aggressiv.] "Eigentlich habe ich neulich im Internet über Arcadia gelesen. Es hat mich irgendwie interessiert, das mal zu spielen."
Als Luo Jin das hörte, wandte er sich an seinen zweiten Bruder. "Wirklich?"
Luo Yan nickte. Jetzt, wo es ihm gesundheitlich wieder gut ging, hatte er wirklich Lust, die VR-Version von Arcadia auszuprobieren.
Luo Jin zog die Stirn in Falten. Denn das Erste, woran er denken musste, war, ob das Spielen solch eines Spiels die Gehirnaktivität seines zweiten Bruders beeinträchtigen könnte. "Lass uns erst mit Papa reden, bevor du es alleine ausprobierst."
"Okay." Luo Yan wusste, dass er nicht spielen könnte, wenn sein Vater es ihm untersagen würde. Schließlich kostete ein VR-Helm wahrscheinlich eine Menge Geld, das er definitiv nicht allein aufbringen konnte.
"Wenn du vorhast, Arcadia zu spielen, könnte ich dir einen von Moonlight Media für das Spiel angefertigten VR-Helm schicken", bot Shen Ji Yun an, als würde er einfach nur ein Bonbon verschenken.
"Das ist nicht nötig. Unsere Familie kann sicherlich hundert dieser VR-Helme kaufen", entgegnete Luo Jin in seinem üblichen genervten Tonfall.
"Trotzdem danke für das Angebot", fügte Luo Yan hinzu. "Aber ich könnte so etwas Teures wirklich nicht annehmen."
Shen Ji Yun nickte nur. Er verstand. Wahrscheinlich sah das Kaninchen in ihm nur einen Fremden. Aus irgendeinem Grund, den er nicht erklären konnte, behagte ihm dieser Gedanke nicht sonderlich.
Luo Yan hörte der Rede von Shen Yi Mu weiterhin aufmerksam zu. Sie war interessant, also langweilte er sich nicht. Bevor er sich versah, war die Rede vorbei und Shen Yi Mu verließ bereits die Bühne.
Daraufhin erhielt Shen Ji Yun eine Nachricht auf seinem WeChat.
Onkel Yi Mu: [Ich bin mit meiner Rede fertig. Wir können jetzt gehen. Triff mich einfach auf dem Parkplatz.]
Bevor er antwortete, warf Shen Ji Yun einen Blick auf das Kaninchen neben ihm. Er hätte gerne noch etwas länger zugewartet, aber er wusste, dass sein Onkel anschließend noch eine Besprechung hatte. Und sie mussten sofort nach B City zurück. Schließlich antwortete er doch;
Ji Yun: [Okay.]
Er erhob sich, worauf das Kaninchen zu ihm hochblickte. "Ich muss los. Schön, dich kennenzulernen, du dummer Hase", sagte er und zögerte nicht, dem Hasen in die weiche Wange zu kneifen. Dann ging er weg.
Luo Yan realisierte erst, was er gerade gesagt hatte, als Shen Ji Yun schon fort war. Wer ist der dumme Hase?
Shen Ji Yun hatte gerade das Auditorium verlassen, seine Finger spürten noch immer die Weichheit der Wange, die er gekniffen hatte. Irgendwie bedauerte er es, dass er nicht einmal nach der WeChat-ID des Hasen gefragt hatte. Möglicherweise wäre dies ihre letzte Begegnung. Aus irgendeinem Grund verabscheute er diesen Gedanken.
Im Auditorium hatte Luo Yan diese Begegnung bereits weit nach hinten in seinem Kopf verdrängt.