An jenem Abend, am Ende ihres ersten Tages in dieser neuen Welt – fast die gesamte Zeit hatte sie in diesem Raum verbracht – saß Melisa an ihrem Schreibtisch, umgeben von einem Haufen Bücher und Schriftrollen.
Sie ähnelte einer Abhängigen.
Schwer atmend, mit zerzaustem Haar und fast blutunterlaufenen Augen starrte sie auf den Tisch vor sich – ihr Schlachtfeld.
Sie hatte sich eine Mission gesetzt: Die Geheimnisse der Magie dieser Welt aufzudecken.
[Egal, was die anderen sagen,] dachte sie mit konzentrierter Stirn. [Ich werde herausfinden, wie Magie funktioniert, selbst wenn es mich das Leben kostet!]
Stundenlang hatte sie gelernt, jeden Text durchforstet, den sie zum Thema finden konnte – was natürlich nicht viele waren.
Wieso auch? Sie waren keine Magier.
Doch keiner der Texte schien zu helfen. Sie konnte einfach nicht auf die Kraftquelle zugreifen, die scheinbar allen anderen zur Verfügung stand.
[Das ist lächerlich,] dachte sie und knallte ein Buch zu. [Wie soll ich in dieser Welt etwas bewirken, wenn ich nicht mal zaubern kann?]
Sie lehnte sich zurück, massierte sich die Schläfen. Sie brauchte eine neue Herangehensweise, eine frische Perspektive.
Da hatte sie eine Erleuchtung.
[Genau, ich bin Softwareentwicklerin. Ich verstehe was von Logik, Syntax und der Manipulation von Daten. Inwiefern kann ich das hier anwenden?]
Sie schnappte sich eine neue Schriftrolle und begann wie wild zu schreiben.
Für die Anwendung von Magie benötigte man drei Dinge:
1. Eine Beschwörungsformel.
2. Das "Weben" des Zaubers in der Luft.
3. Essenz.
Essenz war das, was ihr fehlte – der Knackpunkt.
Melisa betrachtete die Diagramme im Buch, die Stirn vor Konzentration gefurcht.
[Das ist fast wie ein Programmiercode,] dachte sie, den Kopf neigend. [Die Struktur der Beschwörungsformeln, die genaue Abfolge und Platzierung jedes Wortes ... es wirkt wie eine Programmiersprache.]
Sie ergriff eine neue Schriftrolle und skizzierte emsig Notizen und Beobachtungen.
Ihr fiel auf, dass jeder Zauberspruch einer bestimmten Syntax zu folgen schien, bestimmte Wörter und Phrasen als Schlüsselwörter und Operatoren wirkten.
[Und wie die Weber die Zauber in der Luft malen,] überlegte sie, zeichnete rasch ein Diagramm. [Es ist, als ob sie den Code Zeile für Zeile eingeben, um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen.]
Während sie arbeitete, kam ihr eine Eingebung.
[Einen Moment,] dachte sie, ihre Augen wurden weit. [Wenn Zaubersprüche wie Code sind und Weber diesen Code grundsätzlich mit ihrer Essenz schreiben ... dann müsste ich doch in der Lage sein Magie anzuwenden, solange ich nur an Essenz komme, nicht wahr? Die Regeln besagen, man braucht Essenz. Muss es wirklich meine eigene sein?]
Möglichkeiten wirbelten durch ihren Kopf.
[Was, wenn ich mit etwas anderem zaubern könnte?]
Sie begann zu brainstormen, Ideen und Möglichkeiten festzuhalten. Dann traf es sie wie ein Blitz.
[Runen,] hauchte sie und ihre Augen funkelten vor Offenbarung. [Können Runen in dieser Welt existieren? Ich meine, es müsste doch möglich sein, nicht wahr? Wenn sie existieren, könnte ich Runen benutzen, um Zauber zu erschaffen!]
Es gab keinen wirklichen Grund zu glauben, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein würde, doch es war die beste Idee, die Melisa in diesem Moment hatte. Sie konnte diese Chance nicht verstreichen lassen.
Runen, wie sie sie aus ihren Lieblingsfantasiegeschichten kannte, waren feste Objekte mit eingravierten Symbolen, die ihnen Kraft verliehen.
Um ihre Macht zu entfalten, musste ihnen etwas Magie, etwas Essenz, eingehaucht werden. Doch Melisa fühlte, dass sie auf der richtigen Fährte war.Menschen in dieser Welt müssen schon versucht haben, Beschwörungsformeln und Zauberzeichen einfach selbst aufzuschreiben. Ich muss es auf eine Weise tun, die noch nie ausprobiert wurde.
Es war ein entfernter Hoffnungsschimmer, nicht mehr als eine flackernde Kerze im Schnee.
Aber für Melisa bedeutete es alles.
[Das ist der Weg, da bin ich mir sicher,] dachte sie. [So werde ich Magie nutzen, auch ohne Essenz. Ich weiß es.]
Sie wusste, dass ein langer Weg vor ihr lag, doch sie war entschlossen.
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Nachdem sie das einigermaßen geklärt hatte, gab es eine andere Angelegenheit, die ihre sofortige Aufmerksamkeit verlangte.
Die Kämpfe ihrer Familie. Die Schulden, die sie hatten, und die mysteriöse Gestalt namens Striker, der anscheinend die Wurzel all ihrer Probleme war. Melisa musste mehr herausfinden.
Sie begann zu recherchieren.
Die Gänge waren still.
[Anscheinend schlafen meine Eltern gerne aus.]
Melisa ging herum, ihre kleinen nackten Füße machten leise Schritte auf dem Holzboden.
[Eine Bibliothek, ein Arbeitszimmer, irgendwas in der Art brauche ich. Ich brauche nur einen...]
Sie hielt inne.
Ein Stöhnen erreichte ihre Ohren.
Sie blieb einfach stehen, und von dort aus konnte sie in eines der Zimmer zu ihrer Linken sehen. Die Tür war offen geblieben.
Das bedeutete, sie konnte ihre beiden neuen Eltern sehen...
die intensiv dabei waren, ihr ein Geschwisterchen zu machen.
[... Wow.]
Melisa blinzelte.
Mit einem Kopfschütteln ging sie davon.
[.... DAS IST DIE PERFEKTE ABLAUFLENKUNG!] Melisa ging weiter, im Takt ihrer Schritte klatschten die Geräusche durch die Luft. [JA, SIE WERDEN... SIE WERDEN MICH JETZT NIEMALS BEIM HERUMSCHLEICHEN ERWISCHEN!]
Bald fand sie, was sie suchte.
Ein Ort voller Bücher und Unterlagen über ihre Familie.
Sie schlug eines nach dem anderen auf, und...
Was sie sah, war erhellend, auf die schlimmste Weise.
Die Blackflames, die anscheinend gerade mal aus einer Handvoll Leute bestanden, ihre Eltern eingeschlossen, steckten in tiefen Schwierigkeiten. Sie schuldeten einer zwielichtigen Organisation einen riesigen Betrag, und Striker war ihr Vollstrecker.
Monatelang setzte er ihren Vater unter Druck, forderte Zahlungen und drohte mit schlimmen Konsequenzen, wenn sie es nicht schafften. Jedes Mal war es Melistair nur knapp gelungen, das benötigte Geld aufzutreiben.
[Das ist schlecht,] dachte Melisa, ihr Herz sank. [Wirklich, wirklich schlecht.]
Sie wusste, dass sie etwas tun musste, aber was? Sie war gerade erst hierhergekommen.
[Finanzielle Probleme also?] Melisa seufzte. [Nun... Wenn es in dieser Welt keine Runen gibt, dann könnte das Herstellen von Runen ziemlich profitabel sein, oder?]
Melisa schlug das Buch vor sich zu.
[Es steht mehr auf dem Spiel als nur meine Machtphantasie. Ich muss das herausfinden.]