Am nächsten Morgen wachte Melisa mit einem Stöhnen auf.
[Ahh... Es war auch schwer, letzte Nacht etwas Schlaf zu bekommen. Aber, äh... aus ganz anderen Gründen.]
Ihr gingen noch immer die Ereignisse von gestern durch den Kopf.
[Verrückt.]
Doch bald schon schleppte sie sich aus dem Bett.
Sie stolperte den Flur entlang in Richtung Hauptraum und rieb sich noch immer den Schlaf aus den Augen. Doch als sie sich näherte, drangen laute Stimmen an ihr Ohr und ließen sie innehalten.
"Du musst bezahlen, Melistair. Und zwar bald." Die Stimme war tief und schroff, mit einem gefährlichen Unterton.
"Ich weiß, ich weiß. Ich arbeite so hart ich kann, um das Geld aufzutreiben." Das war ihr Vater, sein sonst so fröhlicher Tonfall war jetzt angestrengt und flehend.
Melisa spähte um die Ecke.
Ihr Vater stand einem großen, imposanten Mann gegenüber, der dunkel gekleidet war. Das Gesicht des Mannes war hart und unversöhnlich.
"Hart arbeiten? Scheint nicht hart genug zu sein", knurrte der Mann. "Der Boss wird ungeduldig. Du willst nicht sehen, was passiert, wenn er die Geduld völlig verliert."
"Ich weiß, aber ich-"
Melisa sah entsetzt zu, wie der Mann plötzlich seine Faust in den Bauch ihres Vaters rammte. Melistair krümmte sich und schnappte nach Luft.
Melisa konnte das Keuchen, das ihren Lippen entwich, nicht unterdrücken.
"Wenn du das Geld nicht bis nächste Woche zusammenkratzen kannst ..."
Der Mann in der schwarzen Robe knackte bedrohlich mit den Fingerknöcheln.
"Sagen wir einfach, ich werde nicht annähernd so freundlich sein, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme."
Mit diesen Worten stürmte er hinaus und schlug die Tür hinter sich so fest zu, dass die Wände wackelten.
Melisa eilte an die Seite ihres Vaters, als er sich aufrichtete und immer noch keuchte.
"Papa! Geht es dir gut? Wer war dieser Kerl? Warum hat er dich geschlagen?"
Melistair tätschelte ihren Kopf und versuchte ein beruhigendes Lächeln, obwohl er vor Schmerzen zuckte.
"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Schatz. Nur... Nur ein paar geschäftliche Probleme, das ist alles."
[Von wegen geschäftliche Probleme], dachte Melisa verärgert. [Das war ein Kredithai, wie ich ihn noch nie gesehen habe.]
Aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Margaret half ihrem Mann, sich auf einen Stuhl in der Nähe zu setzen.
"Ach, Mist. Ich hatte irgendwie gehofft, dass sie es einfach vergessen würden", kicherte Melistair schwach.
"Ich hole dir etwas Eis", sagte Margaret. "I-"
"Nein, nein", winkte Melistair sie ab. "Ich muss jetzt zur Arbeit. Nur... Gib mir eine Minute. Der Kerl kann ganz schön zuschlagen, haha."
Während sie zu ihm aufschaute, nahm Melisa die Situation zur Kenntnis.
Eine Woche. Sie hatten eine Woche Zeit, um das Geld aufzutreiben, egal wie hoch es war, oder dieser Rohling würde zurückkommen.
[Wenn ich nur herausfinden kann, wie diese Runenmagie funktioniert...], dachte sie. [Das ist alles, was ich brauche. Selbst in nur einer Woche würde diese Art von Technologie eine Menge Geld einbringen, oder?]
Sie ballte entschlossen ihre kleinen Fäuste. Magie oder nicht, neun Jahre alt oder nicht, Melisa Blackflame würde ihre neue Familie nicht kampflos untergehen lassen.
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Später an diesem Tag, als Melistair wieder arbeiten war, näherte sich Melisa Margaret mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen.
"Hey, Mom?", fragte sie mit einer Stimme, die süß wie Honig war. "Ist es in Ordnung, wenn ich heute wieder mit Isabella abhänge? Es hat mir gestern sehr viel Spaß gemacht, mit ihr zu spielen."
Margaret blickte von dem Buch auf, in dem sie las, und lächelte mitfühlend.
"Oh, Süße, das tut mir leid. Isabella und ihre Familie waren nur für ein paar Tage zu Besuch. Sie sind heute früh abgereist, um ihre Reise fortzusetzen."
[FUCK,] schrie Melisa innerlich und schaffte es kaum, ihren Gesichtsausdruck neutral zu halten. [Das war's mit meiner magischen Quelle.]
Laut seufzte sie nur und ließ enttäuscht die Schultern sinken.
"Oh. Okay. Trotzdem danke, Mom."
Margaret streckte die Hand aus und tätschelte Melisa tröstend den Kopf.
"Ich weiß, dass ihr euch gut versteht, aber mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, du wirst bald genug andere Freunde finden."
Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte ihrer Mutter zu, bevor sie sich auf den Weg machte.
[Tja, das war's dann wohl], sinnierte sie und trat im Gehen gegen einen Kieselstein. [Wenn ich keinen anderen Magier finde, stehe ich wieder am Anfang.]
Dann kam ihr ein Gedanke, und sie hielt inne und blickte in Richtung Eingangstür.
[Wisst Ihr, ich habe diesen Ort noch gar nicht erkundet. Ich frage mich, in was für einer Stadt wir leben.]
Neugierig geworden, machte sich Melisa zum ersten Mal seit ihrer Reinkarnation auf den Weg nach draußen.
Als sie in das Sonnenlicht trat, blinzelte sie und ihre Augen gewöhnten sich an die Helligkeit. Doch als sich ihre Sicht klärte, runzelte sie verwirrt die Stirn.
[Was zum...?]
Sie lebte in der Tat nicht in einer Stadt.
Sie lebte in einem Dorf.
Und das Dorf war... nun, um es offen zu sagen, eine Art Müllhalde. Die Straßen waren unbefestigte Wege, übersät mit Unrat und gelegentlich umherstreunenden Hühnern. Die Häuser waren heruntergekommene Hütten, deren Wände mit unpassenden Brettern geflickt waren und deren Dächer müde herunterhingen.
Das Haus ihrer Familie, aus dem sie gerade herausgekommen war, war bei weitem das schönste hier. Und in einer Woche, wenn sie nicht bezahlten, würde es wahrscheinlich nicht einmal mehr ihnen gehören.
[Okay, noch eine schreckliche Unterwanderung meiner Erwartungen. Wunderbar.] Sie rümpfte die Nase über die verschiedenen unangenehmen Gerüche, die durch die Luft wehten.
Sie wanderte die Straße hinunter und nahm die Sehenswürdigkeiten (und Gerüche) mit einem wachsenden Gefühl der Enttäuschung auf.
[Komm schon... Da muss es doch...]
Etwas. Etwas stach ihr ins Auge.
Ein kleiner Laden, von außen genauso abgenutzt und verwittert wie alle anderen, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Über der Tür hing ein Schild mit seltsamen Symbolen.
Das musste natürlich etwas bedeuten:
[Ein Zauberladen?], dachte Melisa, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. [In diesem Hinterwäldlerdorf? Wie unwahrscheinlich!]
Sie traute ihrem Glück kaum, eilte hinüber und stieß die Tür mit einem beherzten Ruck auf.
Eine bimmelnde Glocke kündigte ihren Eintritt an, als sie eintrat.
Der Laden war ziemlich gemütlich. "Beengt" wäre vielleicht zutreffender gewesen. Regale säumten jede Wand, vollgestopft mit allerlei seltsamem Krimskrams. Verstaubte Bücher stapelten sich wahllos in den Ecken, und seltsame, würzige Düfte hingen in der Luft.
Es war so klein, dass Melisa von der Tür aus fast das gesamte Inventar überblicken konnte.
[Okay... Nicht gerade eine große Auswahl, aber immerhin etwas], dachte sie. [Her mit den magischen Leckereien!]
"Na, hallo, junge Dame."
Melisa sprang auf und drehte sich um, um die Quelle der Stimme zu sehen.
Ein alter Mann stand im hinteren Teil des Ladens, sein wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Lächeln. Er war ein Mensch, wie Melisa feststellte, da er weder Hörner noch einen Schwanz hatte.
"Was führt eine kleine Nim wie dich in meinen bescheidenen Laden?", fragte er, seine Stimme war weich und rau vom Alter. "Hast du dich vielleicht verlaufen?"
Melisa richtete sich auf.
"Du hast dich in einem Nim-Dorf niedergelassen und bist überrascht, wenn Nim auftauchen?" Sie konnte nicht anders als zu antworten. "Das ist merkwürdig."
Die Brauen des Mannes schossen in die Höhe.
"Da haben Sie nicht unrecht." Er lächelte, nicht unhöflich.
"Wie auch immer, nein, ich bin absichtlich hier. Ich habe mich gefragt, ob Sie irgendwelche Essenzquellen zu verkaufen haben?"
Der alte Mann blinzelte und sah etwas verblüfft aus.
"Quellen von Essenz, sagten Sie? Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich..."
Aber Melisa hörte nicht zu. Ihr Blick war auf ein Regal direkt hinter der Theke gefallen, wo eine Sammlung von Kristallen im Lampenlicht glitzerte.
"Was ist mit denen?", fragte sie und zeigte auf sie. "Was sind das für welche?"
Der Ladenbesitzer folgte ihrem Blick und runzelte leicht die Stirn.
"Ah, die Geisterkristalle? Ja, sie enthalten eine gewisse Menge an magischer Energie. Wir ernten sie in den Minen außerhalb des Dorfes."
Melisas Gedanken rasten, die Zahnräder drehten sich rasend schnell.
"Wie werden sie verwendet?"
Der alte Mann verengte seine Augen ein wenig.
"Du bist ein neugieriges junges Mädchen." Als er sah, dass sie nicht darauf einging, zuckte er mit den Schultern. "Sie werden hauptsächlich zur Beleuchtung verwendet. Ihr Licht braucht ewig, um zu verblassen, und leuchtet so gut wie jede Fackel. In Syux kann man diese Dinger praktisch in jeder Ecke der Stadt finden."
Melisa hörte zum Ende hin gar nicht mehr zu. Das Einzige, was sie interessierte, war, dass diese Dinger Magie speicherten.
Magie, die sie für ihre Runen nutzen konnte.
"Wie viel für einen dieser Kristalle?", fragte sie und versuchte, den Eifer aus ihrer Stimme zu halten.
Der alte Mann gluckste.
"Wahrscheinlich mehr, als du hast."
"Versuchen Sie es."
Er seufzte.
"100 Sonnen pro Stück."
"..."
[Ist das viel? Egal, ich werde Mama fragen.]
"Okay, danke! Ich bin gleich wieder da!"
Und damit rannte sie aus dem Laden und machte sich auf den Weg nach Hause.
Mit etwas Glück brauchte sie nur 100 "Sonnen", um ihre Essenzquelle zu bekommen, ihre Theorien auszuprobieren und Geld zu verdienen!
Endlich konnte das echte Abenteuer in der anderen Welt beginnen!