Der Morgen, an dem Thalor aufbrach, war stiller als sonst. Die Luft hing schwer, fast als würde die Natur selbst das Gewicht der kommenden Ereignisse spüren. Thalor hatte sich verabschiedet, seine mächtigen Flügel weit aufgespannt, als er in den Himmel aufstieg. Elara hatte ihn beobachtet, bis er nur noch ein Punkt am Horizont war, ihr Herz schwer vor Sorge.
Nun, Stunden später, stand sie alleine am Rand des Zirkusgeländes, wo die Vorbereitungen für die nächste Show liefen. Doch nichts fühlte sich richtig an. Der Zirkus, der einst voller Leben und Freude war, schien ohne Thalor seinen Glanz verloren zu haben. Die Tiere schienen ruhiger, die Mitarbeiter sprachen leiser, als hätte jeder den Schatten des Verlusts gespürt.
Elara versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, doch sie drifteten immer wieder zurück zu dem Moment, als Thalor entschieden hatte, sich dem Kampf anzuschließen. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, doch es war viel zu früh. Thalor war noch so jung, auch wenn er in seinen Fähigkeiten stark geworden war. Das Risiko, ihn zu verlieren, schnürte ihr die Kehle zu. Sie erinnerte sich an seine leuchtenden Augen, als er das erste Mal fliegen gelernt hatte, an die Freude, die er in seine Familie und den Zirkus gebracht hatte.
Jetzt war er weit entfernt, an einem Ort, den sie sich nur dunkel vorstellen konnte – die Drachenstadt, ein uralter Ort voller Magie und Geheimnisse, aber auch voller Gefahren. Er kämpfte gegen Menschen, gegen Drachenjäger, die alles in ihrer Macht stehende tun würden, um seine Art auszulöschen.
„Elara?" Die sanfte Stimme von Mara riss sie aus ihren Gedanken. Die Tierpflegerin trat vorsichtig zu ihr, ein besorgtes Lächeln auf den Lippen. „Du siehst so aus, als wärst du nicht wirklich hier."
Elara atmete tief ein und versuchte, die Sorgen von ihrem Gesicht zu wischen. „Ich... es ist nichts. Ich mache mir nur Sorgen."
Mara nickte verstehend. „Ich denke, wir alle tun das. Es ist schwer, ihn nicht hier zu haben."
Elara sah über das Gelände des Zirkus. Der Platz, an dem Thalors Stall normalerweise stand, war leer, und diese Leere war wie ein Loch in ihrem Herzen. Sie hatte ihn all die Jahre beschützt, ihn geleitet, als er noch schwach und unsicher war. Jetzt war er fort – und sie konnte nichts tun, um ihn zu schützen.
„Es fühlt sich an, als hätte ich einen Teil von mir verloren," sagte Elara leise. „Er ist so ein wichtiger Teil unseres Zirkus... unseres Lebens."
Mara legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber Thalor ist stark. Er hat so viel von dir gelernt, Elara. Und er wird zurückkommen."
„Wird er das?" fragte Elara und drehte sich zu ihr um. „Wird er wirklich zurückkommen, Mara? Er ist da draußen, mitten in einem Krieg. Er ist noch so jung. Ich hätte ihn nie gehen lassen dürfen."
Mara schüttelte sanft den Kopf. „Es war nicht deine Entscheidung. Es war seine. Thalor ist kein Kind mehr, Elara. Er musste diesen Weg gehen, und so sehr es uns auch wehtut, ihn loszulassen – es war sein Recht."
Elara sah in die Ferne, ihr Blick verschwommen vor Tränen, die sie nicht zulassen wollte. „Ich habe ihn immer wie meinen eigenen Sohn behandelt. Und jetzt kämpft er irgendwo, und ich kann nichts tun."
„Du hast mehr getan, als du denkst," sagte Mara sanft. „Du hast ihn stark gemacht. Du hast ihm beigebracht, was es bedeutet, zu kämpfen, aber auch zu lieben. Das ist mehr, als viele Mütter ihren Kindern geben können."
Elara nickte stumm, doch der Schmerz in ihrer Brust blieb. Die Nacht rückte näher, und sie konnte spüren, wie die Dunkelheit ihre Sorgen verstärkte. In Gedanken sah sie Thalor, wie er gegen Menschen kämpfte, seine mächtigen Schwingen schlagend, Feuer speiend, um sein Volk und seine Stadt zu verteidigen. Sie wusste, dass er in der Drachenstadt eine andere Seite von sich zeigen musste – eine Seite, die sie nie ganz hatte sehen wollen.
„Ich frage mich, wie es ihm jetzt geht," flüsterte Elara und sah hinauf zu den Sternen, die gerade am Himmel zu erscheinen begannen.
„Er wird seinen Weg finden," sagte Mara leise. „Er hat das Herz eines Kriegers – und die Liebe seiner Familie, sowohl seiner Drachen- als auch seiner Zirkusfamilie. Das wird ihn leiten."
Elara lächelte schwach, doch ihre Gedanken drifteten weiter zu Thalor. Sie stellte sich vor, wie er Seite an Seite mit seiner Mutter und seinem Vater kämpfte, wie sie ihn in die uralten Geheimnisse der Drachen einführten. Doch genauso stellte sie sich vor, wie er verletzt wurde, wie er gegen übermächtige Feinde kämpfte, die keinen Halt vor seiner Jugend machten.
„Ich hoffe nur, dass er weiß, dass wir ihn hier brauchen," sagte Elara schließlich. „Dass er immer ein Zuhause hat."
Mara nickte und trat einen Schritt zurück. „Er weiß es, Elara. Das weiß er."
Elara blieb noch lange stehen, den Blick fest auf den Horizont gerichtet. Sie wusste, dass sie ihn loslassen musste, ihm die Freiheit geben musste, die er sich so lange erkämpft hatte. Aber es war schwer. Schwerer, als sie je gedacht hätte.
Die Nacht zog heran, und der Zirkus kam zur Ruhe. Doch Elara fand keinen Schlaf. Sie lag wach in ihrem Bett und dachte an Thalor, ihre Gedanken immer wieder bei der Drachenstadt, bei den Kämpfen, die dort ausgetragen wurden.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden, als die Dunkelheit am tiefsten war, schloss sie die Augen und betete – nicht zu den Göttern, sondern zu Thalor selbst. Sie hoffte, dass er ihre Worte hören konnte, dass er die Kraft und den Mut fand, zurückzukommen.
„Du schaffst das," flüsterte sie leise in die Stille der Nacht. „Komm zurück zu uns, Thalor."
Doch die Nacht antwortete nicht. Die Stille blieb. Und Elara wusste, dass sie warten musste – warten, bis der Tag kam, an dem Thalor wieder zu ihnen zurückkehren würde. Wenn er es denn tat.