Die nächsten zwei Tage fliegen nur so an mir vorbei. Diese bestehen aus hartem Training, langweiligen Vorlesungen, noch mehr Training und schließlich abends erschöpft und müde ins Bett fallen. Seit meinem Krankenhausaufenthalt habe ich mich kaum mit Eldor unterhalten, obwohl ich ihm noch zwei freie Wünsche schulde, macht er keine Anstalten, mit mir ein Gespräch zu führen, das nicht über meine Kampfkünste geht. Wir teilen jetzt zwar ein Zimmer, doch das bedeutet nicht, dass wir miteinander reden.
Meistens kommt Eldor kurz vor der Sperrstunde ins Zimmer, wenn ich bereits im Bett liege und schlafe – oder zumindest so tue, als würde ich schlafen. Mit dem Gesicht zur Wand gedreht, horche ich angespannt auf jedes seiner Geräusche, während er sich leise bewegt, seine Waffen ablegt, sich umzieht und sich ins Bett legt. Es ist ein seltsames Gefühl, diese ständige Nähe zu ihm. Jedes Mal wenn ich bei ihm bin, breitet sich in mir eine unendlich große Spannung aus. Wie ein gespannter Bogen, der nur darauf wartet, einen Pfeil abzuschießen. Ich bin mir fast sicher, dass er weiß, dass ich nicht wirklich schlafe, doch solange er sein Versprechen hält und niemandem etwas über Raven erzählt, nehme ich diese seltsame Stimmung zwischen uns in Kauf.
Im Training verhält sich Eldor anders. Er geht viel härter mit mir um als mit den anderen. Jedes Mal fordert er mich bis an meine Grenzen und darüber hinaus. Nach jeder Einheit brennen meine Muskeln, und ein unstillbarer Hunger breitet sich in mir aus, als hätte mein Körper eine tiefe Energiequelle anzapfen müssen, um mitzuhalten. Gestern hatte ich nach langer Zeit endlich wieder einen Bogen in der Hand. Es war ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist, fast wie das Wiederfinden eines alten Freundes, den man viel zu lange nicht mehr gesehen hat. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich es vermisst hatte, bis ich den ersten Pfeil abgeschossen habe. Der Pfeil flog in einem perfekten Bogen und landete direkt in der Mitte der Zielscheibe. In diesem Moment durchströmte mich ein unerwartetes Glücksgefühl. Es war, als wäre ein Teil von mir, ein Stück Heimat, wieder zum Leben erweckt worden.
Natürlich konnte dieser Moment nicht lange ungestört bleiben. Ingrid, die neben mir stand und meine Schüsse beobachtete, konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen, als sie merkte, dass ich fast jeden Pfeil mit beeindruckender Präzision in die schwarze Mitte versenkte. Ihre Worte waren abfällig, wie gewohnt, eine Mischung aus Neid und Arroganz, die in ihrer Stimme mitschwang. Ich ließ mich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Kommentar prallte an mir ab, denn in diesem Moment konnte nichts mein Hochgefühl trüben. Außerdem gab es in meinem Leben wirklich nichts irrelevanteres als diese neidische Adelige Zicke. Die wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang nur mit Samthandschuhen angefasst wurde. Witze, wenn man bedenkt, dass ohne den Krieg ich wahrscheinlich so wie sie wäre.
Ryan hingegen war das genaue Gegenteil. Er war begeistert von meiner Leistung und konnte seine Freude kaum zurückhalten. Mit einem breiten Grinsen klatschte er mich freudig ab, als ich den letzten Pfeil abschoss. Es war schön, jemanden an meiner Seite zu haben, der meine Freude teilte. In letzter Zeit ist Ryan immer mehr zu einem echten Freund für mich geworden. Es ist seltsam, wie schnell sich Vertrauen und Freundschaft entwickeln können, besonders inmitten all der Herausforderungen, denen wir täglich gegenüberstehen. Seine Unterstützung gibt mir Kraft, und ich merke, dass er jemand ist, auf den ich zählen kann – nicht nur im Training, sondern auch außerhalb davon. Aber immer wieder kommen Gedanken in meinen Kopf, die mich zurückstoßen. Denn nur zu gut weiß ich, dass jeder, der mir etwas bedeutet, automatisch eine Zielscheibe auf dem Rücken trägt. Es ist nur eine Frage der Zeit bis sich der König diese Freundschaft gegen mich verwenden wird.
Gestern Morgen habe ich Dan über den Trainingsplatz humpeln sehen, und der Anblick ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Er sah wirklich schrecklich aus, sein Gesicht war mit blau-grünen Blutergüssen übersät und er schleppte sich mit schmerzhafter Langsamkeit vorwärts. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, was ihm passiert war. Hat er sich beim Training verletzt? Bei unserem Kampf habe ich ihm zwar ein paar Schnitte verpasst, aber nichts, was ihm solche Schmerzen bereiten würde. Doch was mich noch mehr irritierte, war die Tatsache, dass er sich nicht behandeln ließ. Warum zögert er, zur Heilerin zu gehen, wenn es in der Kaserne jemanden gibt, der ihm helfen könnte? In wenigen Minuten wäre er wieder geheilt. Es machte keinen Sinn. Die Verletzung sah ernst aus, und die Schmerzen, die er offensichtlich hatte, waren schwer zu übersehen. Was mir, so leid es mir tut, beim Anblick Freude bereitet.
Raven habe ich kaum noch zu Gesicht bekommen. Seit dem Moment, als sich unsere Lippen berührt haben, kreisen meine Gedanken unaufhörlich um diesen Kuss. Es ist, als hätte er eine unauslöschliche Spur in meinem Kopf hinterlassen. Jedes Mal, wenn ich daran denke, muss ich unwillkürlich lächeln, und mein Herz schlägt ein wenig schneller. Doch irgendwie scheint Raven mich zu meiden, zumindest bilde ich mir das ein. Ein paar mal habe ich ihn auf dem Gelände gesehen und im Unterricht. Aber mehr als ein kleines Lächeln war da nicht. Vielleicht hat er das Gefühl, er müsste mich schützen und könnte das am Besten, wenn er sich von mir fernhält.
Oder steckt Eldor dahinter? Immerhin hat er keine Gelegenheit ausgelassen, mich davon abzuhalten, mich auch nur für einen Moment von unserer Truppe zu entfernen. Während die anderen ihre wohlverdienten Pausen genossen und sich ausruhten, hatte ich kaum einen Moment der Ruhe. Stattdessen wurde ich mit immer neuen Trainingsübungen beschäftigt. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich könnte kurz durchatmen, drückte mir Eldor eine weitere Übung auf. Seine strenge Miene ließ keinen Raum für Widerworte. Ich frage mich, ob all das wirklich notwendig war oder ob er mich bewusst auf Trab halten wollte. Ich bin zwar die Schwächste im Team, aber diese Lücke kann ich bestimmt nicht bis zur ersten Prüfung aufholen. Und ich bezweifle das es etwas bringt mich derart Körperlich auszulaugen, wenn doch heute schon die Prüfung stattfindet.
Heute Morgen bin ich dann früh aufgewacht. Ein unruhiger Schlaf hatte mich in den frühen Stunden aus dem Bett getrieben, und ich wusste genau, warum. Heute war der Tag der ersten Prüfung. Und wir wussten immer noch nicht, was uns genau erwartet. Die Spannung und Angst, die sich in mir aufbaute, war überwältigend. 'Aufregung' – das Wort war viel zu schwach, um das Chaos zu beschreiben, das sich in mir ausbreitete. Es war mehr als nur Nervosität. Es fühlte sich an, als hätte sich ein harter Knoten in meinem Magen gebildet, der sich bei jedem Gedanken an die Prüfung fester zusammenzog. Je näher der Moment rückte, desto mehr schien mein Verstand von wilden, ungeordneten Gedanken überflutet zu werden. Ich konnte mich nicht davor schützen, mir auszumalen, was alles schiefgehen könnte. Es ging nicht nur um mein Leben – auch Idas Schicksal hing davon ab. Diese Erkenntnis machte die Last, die auf mir lag, fast unerträglich. Aber gleichzeitig war da auch ein Funken Entschlossenheit.Dieser kleine Funke hatte mich überhaupt erst hierher geführt, trotz all der Zweifel, trotz der Gefahren. Wenn der König sein Versprechen hält, und wenn ich es tatsächlich schaffe, diese Prüfung zu bestehen, dann könnte dies der Weg in die Freiheit sein. Aber für meinen Geschmack waren da viel zu viele 'Wenns'. Trotzdem blieb mir keine andere Wahl.
Pünktlich um 7 Uhr sollten wir alle auf dem Appellplatz sein.
Ich zog mir die schwarze Uniform an, die uns zugeteilt worden war, und schlüpfte in eine warme Winterjacke. Die Kälte draußen konnte die innere Anspannung in mir nicht vertreiben. Als ich Eldors Dolch um meinen Oberschenkel schnallte, musste ich unwillkürlich an den Kampf mit Dan denken, bei dem ich ihn verloren hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Messer jemals wieder in den Händen halten würde. Doch gestern Abend lag der Dolch plötzlich auf meinem Bett. Vielleicht war Raven da gewesen und hatte ihn zurückgebracht. Doch sicher wusste ich es nicht. Eldor zu fragen, kam für mich nicht infrage.
Neu in meinem Inventar war ein schlichter Holzbogen und ein kleiner Lederköcher mit zehn Pfeilen, den ich auf meinem Rücken befestigte. Der Bogen war nichts besonderes, aber er sollte seinen Zweck erfüllen. Als ich schließlich meine Stiefel fest zuschnüren, fühlte es sich an, als würde ich mich für einen Kampf rüsten, auf den ich nicht wirklich vorbereitet war. Allein und mit schwerem Herzen machte ich mich auf den Weg zum Appellplatz. Jeder Schritt brachte mich näher an die Prüfung, an das Schicksal, das ich in meinen Händen halte. Wie es ausgeht, liegt bei mir. Bis jetzt ist noch nichts verloren.
Langsam näherte ich mich dem Appellplatz. Rekruten in den verschieden farbigen Uniformen, genauso nervös wie ich, hatten sich bereits in dichten Reihen versammelt. Ihre Gesichter spiegelten die gleichen Emotionen wider, die in mir tobten – Angst, Ungewissheit, ein Hauch von Entschlossenheit. Es war, als würden wir alle an der Schwelle zu etwas Großem und Gefährlichem stehen, und keiner wusste genau, was uns erwartet. Aber im Gegensatz zu den Anderen stand bei mir nicht nur ein Leben auf dem Spiel.
Meine Schritte verlangsamten sich, als ich den Blick über die Menge gleiten lasse. Bei Ryan angekommen, stelle ich mich neben meine kleine Gruppe. Vor uns erhebt sich das Podium, auf dem die drei mächtige Gestalten stehen: Kommandant Iratus, seine Körperhaltung und sein stählerner Blick lässt jedem sofort das Gefühl geben, er könnte durch sie hindurchsehen; Hoheprofessor Cerus, dessen kühle Fassade keine Gefühle durchdringen ließ; und schließlich Hohepriesterin Namani, eine kleine Frau von unvergleichlicher Ausstrahlung, trotz ihres Alter. Sie standen Seite an Seite, als ob sie über uns wachen würden, während der Moment der ersten Prüfung immer näher rückt.
Eldor stand als erster in der Reihe. Als unser Truppenanführer. Sein Gesicht ist wie in Stein gemeißelt. Unergründlich. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Emotionen, als wäre er eine unbewegliche Säule inmitten eines Sturms. Seine undurchdringliche Miene ließ mich rätseln, was in ihm vorging. Wollte er uns schützen, oder lag ihm nichts an unserem Schicksal? Was sind seine Beweggründe? Ob er als Sohn des Königs mehr weiß als wir? Die Fragen nagen an mir, aber ich wusste, dass ich keine Antwort bekommen würde.
Ryan rückt näher an mich heran, seine dunklen braunen Augen voller Sorge, doch mit einem warmen Lächeln.
"Wie geht's dir?" fragte er leise, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf uns zu ziehen. Ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln und erwiderte:
"So gut, wie es einem in so einer Situation gehen kann, schätze ich." In Wahrheit tobte ein Sturm in meinem Inneren, doch ich wollte nicht, dass er das wusste. Ich weiß nicht mal wie viel er wirklich über mich weiß. Warum ich hier bin. Von meinem Deal mit dem König kann er nichts wissen.
Bevor er noch etwas sagen konnte, trat Kommandant Iratus einen Schritt nach vorne und die Menge verstummte augenblicklich. Seine tiefe, kraftvolle Stimme hallte über den Platz.