Chereads / Die vier Wächter - Das Eisherz / Chapter 23 - Kapitel 22

Chapter 23 - Kapitel 22

Ich liege auf meinem Bett und starre zur Decke, die Balken über mir verschwimmen in meinem Blickfeld. Der König ist mit seinem ganzen Gefolge und Ida einige Stunden nach unserem Gespräch auch schon wieder abgereist. 

Den Vormittag über habe ich mich in meinem Zimmer versteckt. Zuerst kamen die Tränen wie ein Sturm, ungehemmt und unaufhaltsam, bis nichts mehr übrig blieb. Dann blieben nur noch Schluchzer, die durch den kleinen Raum hallten. Der so leer und trostlos ist, wie ich mich fühle. Alles ist bedeutungslos. Irgendwann erstarben selbst die Schluchzer, und zurück blieb nur die Stille. Lähmende, beklemmende Stille, die sich wie ein Gewicht auf meine Brust legte und mich fast erdrückt. Es ist, als hätte das Zimmer all meine Hoffnung verschluckt, jede Vorstellung von Freiheit, von einer Zukunft. Mein Gedanken rasen nur so. 

Ich liege da und frage mich, wie ich noch weitermachen soll. Warum überhaupt noch kämpfen? Jede Mühe scheint so bedeutungslos. Die Freiheit, die ich mir immer erträumt habe, scheint weiter entfernt als jemals zuvor. Ich weiß nicht, was mich aufrecht erhalten soll. Ida hatte diese Erkenntnis schon vor mir. Sie hat längst aufgegeben. Und trotzdem – kann ich das wirklich auch einfach tun? Aufgeben und dem König das geben, wonach er sich am meisten sehnt? Die Genugtuung für ihn, meinen Willen zu brechen, ihn zu sehen, wie er in meiner Niederlage schwelgt... ich könnte es nicht ertragen. Einfach zu verschwinden, zu flüchten ist auch keine Option. Aber das geht nicht. Was würde dann aus Ida werden? Ich kann sie nicht einfach zurücklassen in dieser Hölle. Sie bleibt das Druckmittel, das Alvar einsetzen wird, wenn ich mich ihm widersetze.

Ein leises Klopfen durchbricht die Stille und zieht mich zurück aus dem dichten Schleier der Gedanken.

„Valeria, bist du hier?", dringt eine gedämpfte Stimme ins Zimmer. Ich erkenne Ryans Stimme, nicht jemanden, den ich erwartet hätte. 

Ich hatte fast damit gerechnet, dass Eldor die Tür aufreißen und mich mit einem dummen Spruch aufzieht, mir einen Befehl an den Kopf werfen würde, oder mich verhöhnen würde, dafür, dass ich herumliege, während ich doch trainieren könnte. Ein winziger Teil von mir hätte es sich sogar gewünscht, dass er hereinkäme, irgendetwas sagen würde, das mich aus diesen dunklen Gedanken reißt. Ich wollte ihn fragen, warum er den König heute Morgen zurückgehalten hat, als er mich bestrafen wollte. Fünf Jahre lang hatte Eldor nie eine Hand gerührt, um mich zu schützen. Er war zwar nie direkt dabei, aber er muss davon gewusst haben. Also warum hat er mir heute geholfen? 

Ein leiser Gedanke dringt in mir auf, dass Raven hier sein könnte, um mich zu trösten, mich in den Arm zu nehmen und mich an seine Brust zu drücken, wo der Schmerz für einen Moment erträglich wird. Er hätte ein offenes Ohr für mich. Oder könnte mir helfen eine Lösung zu finden. Aber keiner von beiden kam. Die Stunden vergingen, das Zimmer lag still und ich darin versunken. Die Sonne zog weiter, der Morgen wich dem Nachmittag, und noch immer lag ich starr und leer auf meinem Bett, den Blick zur Decke gerichtet, als würde dort irgendwo eine Antwort verborgen sein.

Mit müden Händen wische ich mir die getrockneten Spuren der Tränen aus dem Gesicht. Niemand sollte sehen, dass ich geweint habe. Dass ich schwach bin. Ich spüre die Schwellung in meinem Gesicht, die Müdigkeit in meinen Augen. Tief durchatmend antworte ich mit heiserer Stimme: „Ich bin hier."

Ich setze mich langsam auf, zwinge mich, klar zu denken. Ich brauche einen Plan, einen neuen Weg, und dafür muss ich zuallererst mit Eldor sprechen. Da gibt es Dinge, die nur er beantworten kann – aber ich weiß, ich darf ihm nicht trauen. Seine Loyalität gilt allein ihm selbst, das hat er oft genug bewiesen. Und dennoch habe ich keine andere Wahl, wenn ich weiterkommen will.

Auch Raven muss ich finden, allein sein Rat könnte mir helfen, und wenn seine Spione tatsächlich so gut sind, wie er behauptet... Vielleicht weiß er etwas, vielleicht kann er mir helfen. Und mehr als das – ich brauche seine Nähe, um Kraft zu schöpfen, um nicht zu vergessen, dass da noch Hoffnung ist, auch wenn sie im Moment fast unerreichbar scheint.

„Ich komme gleich", rufe ich Ryan zu, der geduldig draußen wartet. Noch einmal wische ich über mein Gesicht, dann wasche ich mich schnell und öffne ihm schließlich die Tür. Vor meinem Zimmer stehen nicht nur Ryan, sondern auch Finly, der mir ein aufmunterndes Grinsen schenkt.

„Bist du bereit, dir die Kante zu geben?" ruft Finly und schwenkt eine Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit über seinem Kopf, als ob es der Schatz schlechthin wäre.

„Mir… was zu geben?" frage ich, völlig überrumpelt und noch nicht ganz bei der Sache. Ich hatte nach all den düsteren Gedanken und der bleiernen Erschöpfung gar nicht erwartet, dass der Tag sich so schnell wenden könnte.

„Heute ist die Abschlussfeier zur ersten Prüfung im Guten Tropen! Kommst du mit?" erklärt Ryan mit einem breiten Grinsen und hebt die Schultern in einer Art Aufforderung. Sein Blick verrät eine Mischung aus Vorfreude und Erleichterung, als hätte er genauso dringend eine Flucht vor dem Alltag gebraucht wie ich. Beide sehen nicht so aus, als könnten sie in meinem Gesicht ablesen welchen Albtraum ich heute mit dem König und Ida erlebt habe. 

„Oh ja, wir lassen nach dem tödlichen Abenteuer richtig die Sau raus!" brüllt Finly noch einmal und lacht dabei schallend. Der Geruch des Alkohols in seinem Atem ist nicht zu überriechen, und ich frage mich, wie viel er wohl schon intus hat.

Ryan beugt sich zu mir und murmelt, halb amüsiert, halb entschuldigend: „Er hat schon den ein oder anderen Schluck gehabt. Finly ist etwas vorgelaufen."

Bevor ich mich richtig versehe, finde ich mich gemeinsam mit ihnen auf dem Weg zum Gasthaus wieder. Der Abend ist kühl, aber die Temperatur ist noch über dem Gefrierpunkt.

Unser Ziel, das Gasthaus Der Gute Tropen, liegt direkt am Rand des kleinen Dorfs neben der Kaserne. Die Fassade des Gasthauses hat schon bessere Tage gesehen; das verwitterte Holz trägt die Spuren vieler Jahre und wirkt fast so, als ob es Geschichten erzählen könnte. Einige Fenster sind leicht beschlagen, und in den Ecken der Fensterrahmen sammelt sich die Feuchtigkeit des kühlen Abends. Als wir eintreten, umfängt uns sofort eine dichte, warme Luft. Der Raum ist überfüllt und wirkt beinahe zu klein für die Menschenmenge, die sich hier versammelt hat. Sofort überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Seit der Gefangenschaft habe ich mich nicht mehr in einem so vollen Raum mit Menschen aufgehalten. Dunkles, abgenutztes Holz prägt die Einrichtung, von den knarrenden Dielen unter unseren Füßen bis hin zu den Wänden, die von Kerzenleuchtern und Öllampen erleuchtet werden. 

An der langen, dunklen Theke stehen bereits viele der Rekruten, ihre Stimmen verschmelzen zu einem lauten, lebhaften Stimmengewirr. Rund um den Raum verteilen sich kleine Sitznischen, die von hohen, hölzernen Trennwänden abgeschirmt werden, sodass die Gäste ein wenig Privatsphäre haben, obwohl sich die Stimmen immer wieder darüber hinwegschwingen. Auf den abgenutzten Holztischen stehen Flaschen und Becher, einige Gäste lehnen entspannt zurück, während andere sich leidenschaftlich gestikulierend unterhalten.

An den Wänden hängen Bilder, verblichene Wimpel und alte Waffen – Säbel, Äxte und ein paar rostige Schilder. Der dumpfe Klang von Musik ist von irgendwoher zu hören.

Finly steuert zielstrebig auf die Theke zu, hinter der die Wirtin, eine etwas kräftigere Frau von einem Gast zum nächsten hetzt. Als Finly sich über die Theke beugt und ruft, „Drei große Krüge Met für uns!", wirft sie ihm einen kurzen, skeptischen Blick zu, bevor sie sich, brummend und mit den Augen rollend, zu den Fässern dreht.

„Drei große Met, junge Herren," murmelt sie, als sie die Krüge mit der goldenen, schäumenden Flüssigkeit füllt, 

Ryan und ich stellen uns neben Finly an die Theke und beobachten, wie die Wirtin die gefüllten Krüge mit einem festen Griff auf den Tresen stellt. Zögerlich hebe ich den Porzellankrug, betrachte das dickflüssige, bernsteinfarbene Gebräu und schnuppere daran. Der Duft ist süß und herb zugleich, eine Mischung, die Versprechen und Warnung zugleich ist. Ryan hebt seinen Krug und grinst mir zu. 

„Auf uns! Den Erfolg der ersten Prüfung und auf das Überleben," ruft er laut.

„Auf das Überleben," wiederhole ich leise, mehr für mich selbst, und stoße vorsichtig mit Ryan an. Der erste Schluck ist süß und kräftig, ein starker Geschmack, der sich brennend durch meinen Hals seinen Weg bahnt. Vielleicht hilft mir der Alkohol, zumindest für eine Weile, meine Gedanken zu verdrängen – Gedanken an den König, an Ida, an Eldor und all die Fragen, die in meinem Kopf kreisen.

Während ich den Krug erneut ansetze, verschwindet Finlys Getränk bereits in einem einzigen großen Zug in seiner Kehle. Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und lässt ein lautes Rülpsen hören, das einige Rekruten in unserer Nähe zum Lachen bringt. Ich sollte es nicht mit dem Met übertreiben, schließlich möchte ich noch mit Eldor reden. Er müsste doch auch irgendwo hier sein. Mein Blick schweift über die Rekruten, die sich im ganzen Gasthaus tummeln. Als ich fündig werde. In der Menge erkenne ich Ron, der an einer Holzstütze mit verschränkten Armen mitten im Raum steht. Er scheint auf jemanden zu warten. Wenn jemand weiß wo ich den Prinz finden kann, dann wohl Ron.

„Da drüben steht Ron." Ich nicke in seine Richtung, wo Ron steht. „Ich geh mal zu ihm. Vielleicht weiß er, wo ich Eldor finden kann. Kommt ihr mit?"

„Ne, lass mal," antwortet Ryan und schüttelt den Kopf. „Wenn Ron hier ist, dann ist Ingrid sicher auch nicht weit. Und ganz ehrlich, ich kann ihre provozierenden Sprüche gerade echt nicht gebrauchen." Finly lacht auf und nickt eifrig.

„Versteh ich."

Dann wende ich mich ab und schlängle mich durch das Gedränge. Durch die vielen Leute hier beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Mit ein paar tiefen Atemzügen versuche ich mich zu beruhigen. Bei Ron angekommen, nickt er mir kaum merklich zu begrüßen zu.

„Hi, Ron," beginne ich, als ich vor ihm stehe. „Weißt du vielleicht, wo Eldor ist?"

Ron runzelt die Stirn und sieht mich skeptisch an. Die Frage gleich zum Gesprächseinstieg zu stellen, war vielleicht nicht meine beste Entscheidung. Er neigt den Kopf leicht zur Seite und fragt in einem neutralen Ton, „Wieso willst du das wissen?"

„Ich muss mit ihm sprechen, es ist... wichtig. Also?" Meine Stimme klingt fast flehend, und ich bemerke selbst, wie angespannt ich dabei klinge.

Rons Blick schweift kurz ab, seine Augen glimmen in einer Mischung aus Amüsiertheit und Abwehr. Er hebt seinen Krug und trinkt langsam, bevor er beiläufig die Schultern zuckt. „Vielleicht," meint er und schaut an mir vorbei.

„Ron, bitte." Ein Hauch von Verzweiflung klingt in meiner Stimme, während ich ihn fast flehend ansehe. 

„Es ist dringend."

Wieder mustert er mich, sein Blick wird weicher, wenn auch nur kurz, und er seufzt, als hätte ich ihm mehr abverlangt, als er bereit war zu geben. 

„Eldor will allein sein," sagt er schließlich. „Er ist nicht hier."

„Wo ist er dann?" 

Ich merke, wie mir die letzten Nerven auszugehen drohen, und ich versuche, ruhig zu bleiben.

Rons Blick schweift wieder ab, in eine dunkle Ecke des Gasthauses, und seine Augen verengen sich leicht. Ich folge seinem Blick und entdecke Ingrid, die eng mit einem großen, breitschultrigen Rekruten zusammensitzt, ihre Hände vergraben sich in seinem Haar, während seine Hände über ihren ganzen Körper streifen. Ein beschämendes Gefühl kriecht in mir hoch, und ich wende den Blick wieder Ron zu, der einen Moment angespannt und beinahe schmerzlich dreinschaut, bevor er wieder zu mir sieht. Erst jetzt fällt mir auf, dass er angespannt wirkt. Ein tiefe Seufzer verlässt seine Kehle. Seine hellbraun gesprenkelten Augen sehen ernst in die meinen.

„Du kannst ihn beim Aussichtsturm in der Kaserne finden," sagt er schließlich und senkt die Stimme, sodass nur ich ihn hören kann. „Aber pass auf, dass dich die Wachen nicht erwischen. Und sei vorsichtig heute ist nicht sein Tag."

Ich nicke, erleichtert und bedanke mich leise bei ihm. Ich reiche ihm meinen halb geleerten Krug Met. 

„Hier, für dich." Ein kleines Lächeln huscht über sein Gesicht, und er nimmt den Krug ohne ein weiteres Wort an. Nach einer kurzen Verabschiedung bei Ryan und Finly stürme ich etwas zu eilig aus dem Gasthaus und mache mich auf den Weg zum Aussichtsturm.