Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und steige die schmale Wendeltreppe hinauf. So leise wie möglich erklimme ich die Treppe und versuche dabei jedes Geräusch zu vermeiden. Von unten dringt der dumpfe Klang der Stimmen der Wachen, die heute genauso wie die Rekruten ausgelassen feiern. Glück für mich. Die Treppe scheint sich endlos zu ziehen, und mir wird schon leicht schwindelig. Wie hoch ist dieser Turm? Von außen sah er viel niedriger aus. Schließlich erreiche ich die letzte Stufe und halte mich für einen Moment an der kühlen, rauen Steinwand fest, um meinen rasenden Puls zu beruhigen und durchzuatmen.
Kaum habe ich einen Schritt in die Kälte des Aussichtsturms gemacht, da höre ich eine tiefe Stimme, die aus der Dunkelheit dringt.
„Was machst du denn hier?"
Erschrocken drehe ich mich um und sehe Eldor, der lässig auf der Brüstung sitzt. Seine Beine baumeln über dem Abgrund, und eine dicke, graue Rauchwolke umgibt ihn. Im schwachen Licht erkenne ich, dass er an einer Zigarette zieht, der Rauch strömt aus seiner Nase, bevor er sich in der Nachtluft verliert. Es ist derselbe Geruch, der mich an den Tag erinnert, als Dans Gang uns überfiel – ein süßlicher, durchdringender Duft. Blue, die Droge, die ich an jenem Tag zum ersten Mal wahrnahm.
Es war doch keine gute Idee, Eldor zu suchen. Jetzt wo er so lässig vor mir sitzt und mich mit seinen blauen durchdringenden Augen mustert, verlässt mich all mein Mut. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihn hier aufzusuchen? Eldor wirkt in der Dunkelheit noch unnahbarer und bedrohlicher. Das flackernde Glühen seines Zigarettenstummels erleuchtet sein Gesicht kurz – er sieht müde und abweisend aus, aber auch… zerbrochen?
"Ich wollte zu dir.", beantworte ich ihm seine Frage nach einigen Augenblicken.
Eldor hebt eine Braue und schnauft belustigt. Er schwenkt die Zigarette zur Seite und wendet sich von mir ab, sein Blick gleitet über die dunklen Umrisse des Waldes, der sich wie ein schwarzes Meer vor uns ausbreitet. Auch ich folge seinem Blick; die Sterne scheinen wie eisige Nadelstiche am tiefschwarzen Himmel, und der schmale Sichelmond wirft ein kaltes Licht über das Land. Im Dorf glimmen die gelblichen Lichter der wenigen Häuser, eine Erinnerung an die Feierlichkeiten, die ich zurückgelassen habe.
„Ich muss mit dir reden," beginne ich leise und bemerke, wie meine Stimme in der kalten Nachtluft dünner klingt, als ich gehofft hatte.
Eldor lässt ein kaum merkliches Lächeln über seine Lippen huschen.
„Musst du das?"
Ich atme tief ein. „Ich… ich wollte mich bedanken."
"Bedanken?", fragt er, als ob es ein Fremdwort für ihn wäre.
„Ja. Du hast mich vor dem König gerettet."
Ich sehe ihn an, diesen Mann, den ich immer nur als den kalten, skrupellosen Prinzen kannte, der jeden bereitwillig opfern würde – ohne zu zögern. Aber hier und jetzt, in der dunklen Einsamkeit dieses Turms, wirkt er seltsam erschöpft, als hätte die Last seiner Entscheidungen ihm tiefere Wunden zugefügt, als ich je gedacht hätte. Wieder zieht er an der Zigarette, und sein Gesicht glimmt kurz auf. Sein Blick ist tief und durchdringend.
„Wie kommst du darauf, dass ich das für dich getan habe?" Seine Stimme ist leise, fast tonlos, und ich kann den Hauch von Müdigkeit darin erkennen.
Ich antworte, meine Stimme fester als zuvor: „Vielleicht, weil du wusstest, dass er mich bestrafen würde, wenn ich ihm die Informationen nicht freiwillig gegeben hätte. Vielleicht hast du es aber auch aus einem anderen Grund getan. Ich weiß es nicht. Aber trotzdem… du hast mir geholfen. Und dafür danke ich dir."
Er hebt die halb geleerte Flasche, die mir bis jetzt kaum aufgefallen ist, und schwenkt diese im Mondlicht, dass der Alkohol darin schimmert.
„Vielleicht hab ich es auch nur getan, weil ich es konnte," murmelt er und nimmt einen tiefen Schluck, als würde er damit die Worte fortspülen wollen. „Wenn der König von deinem Bonarischen Freund hier wüsste, wärst du schneller im Kerker und Raven einen Kopf kürzer, als du bis drei Zählen könntest. Und ich hätte für immer die zwei Gefallen von dir offen, die du mir schuldest. Wär doch eine Verschwendung."
Aber er hat mir nicht nur im Gespräch mit dem König geholfen, sondern auch im Wald bei der Prüfung. Beim Streit mit Ingrid. Er hat mir seinen Dolch geschenkt. Er hat mich trainiert. Warum das alles? Doch nicht nur, weil ihm danach ist.
"Das glaub ich dir nicht.", meine ich trotzig.
Eldor schnaubt und pustet mir den süßlich-beißenden Rauch ins Gesicht. Seine Augen scheinen in der Dunkelheit aufzuleuchten, seine Pupillen fast schwarz. „Willst du auch einmal ziehn, Vally?" fragt er und hält mir die Zigarette hin.
„Nein", antworte ich abwehrend und verschränke die Arme vor der Brust. Ich brauche einen klaren Kopf für das, was ich ihm gleich sagen werde.
„Weißt du," beginnt er, und sein Blick wird gläsern, als verliere er sich in Erinnerungen. "Ich war vor ein paar Jahren in der Eliteeinheit des Königs. Wir sollten die Blue Händler finden und ausräuchern. Witzig, dass ich jetzt selbst das Zeug nehme, um mich vor ihm zu schützen."
Was redet er da? Ich sollte jetzt besser gehen. Ein seltsamer Ausdruck legt sich über sein Gesicht. Sein Kopf ist so sehr benebelt von der Droge. Ist jetzt wirklich der beste Moment dafür, ihn meinen Plan zu erzählen? Aber vielleicht kann ich dafür sorgen, dass er mir in diesem Zustand mehr erzählt als er normalerweise sagen würde.
Eldor seufzt und wirft den Zigarrenstummel in die Dunkelheit, wo er als kleiner roter Punkt in der Ferne verglimmt.
"Du warst bei einer Eliteeinheit?", hacke ich nach.
"Ja, seitdem ich 16 Jahre alt bin. Mit 18 hatte ich schon meine erste eigene Truppe zu führen."
Daher kommen also seine Führungsskills und Autorität.
"Ich hätte alles getan, nur um von der Hauptstadt so weit wie möglich weg zu sein.", spricht er mit glasigem Blick ins Leere.
"Du machst deinen Vater nicht.", sage ich und spreche damit aus was ich mir schon seit einiger Zeit denke. Er hat noch nie Vater zu ihm gesagt. Er vermeidet, über ihn zu sprechen. Er wird angespannt, wenn jemand über ihn Rede. Und komplett emotionslos, wenn er im selben Raum mit dem König ist. Jetzt ist genau die richtige Zeit meinen Plan, den ich mir heute überlegt habe, anzusprechen. Der Plan steht und fällt mit Eldors antwort. Aber es ist auch meine einzige verbliebene Hoffnung. Selbstbewusst mache ich einen Schritt in seine Richtung.
"Wie kommst du denn darauf?", fragt Eldor trocken. Langsam schwingt er seine Beine über die Brüstung und steht langsam auf. Kommt leicht schwankend auf mich zu. Sein Blick wird scharf und kalt und heftet sich auf mir fest.
"Du magst ihn nicht, nur nicht. Du hasst ihn. Genauso sehr wie ich."
"Clever, Vally. Du solltest Ermittlungen in Mordfälle leiten.", brummt er und kommt einen weiteren Schritt auf mich zu. Seine Pupillen sind riesig. Seine sonst hellblauen Augen wirken fast schwarz. „Und wenn das so wäre?", fragt er und kommt mir immer näher.
Ich schlucke, ringe um Worte und endlich platzt es aus mir heraus:
„Ich will ihn töten, Eldor. Ich will ihn ein für alle Mal loswerden, für Ida, für mich… und für dich. Gemeinsam könnten wir das schaffen."
Eldors Gesichtsausdruck gefriert, und er sieht mich ungläubig an, als hätte ich gerade das Unmögliche ausgesprochen. Dann lässt er ein heiseres Lachen hören und schüttelt den Kopf.
„Das ist die beschissenste Idee, die ich je gehört habe."
"Ich weiß noch nicht genau wie, aber wir sollten am besten das Auslese-Ritual durchstehen. Danach haben wir Kräfte, die uns helfen werden, ihn zu besiegen. Raven wird uns helfen, er kennt auch Andere…" Ich halte kurz in meiner Erzählung inne. Ist es wirklich klug, von den Spionen zu erzählen, von denen mir Raven erzählt hat.
"Rebellen. Sie können uns unterstützen. Das ist die einzige Chance für mich und meine Schwester frei zu sein. Für ganz Bonaris ist es die einzige Chance, befreit zu werden."
"Jetzt mach mal halblang, kleine Vally. Wer von uns beiden ist ihr Higher?", unterbricht mich Eldor und legt dabei einen Finger auf meine Lippen.
"Wie kommst du darauf, ich würde dir helfen, meinen König zu töten? Allein der Gedanke daran ist gefährlich. Du hast ja keine Ahnung."
Ich starre Eldor an, sein Finger immer noch sanft auf meinen Lippen. Seine Berührung jagt mir einen leichten Schauer über den Rücken. Hitze steigt in meine Wange, die ich versuche zu unterdrücken.
„Du hasst den König," flüstere ich, die Worte kaum mehr als ein Hauch. Eldor lässt seine Hand langsam sinken, und ich nutze den Moment, um einen Schritt zurückzutreten. Abstand zwischen uns ist wichtig, damit dich wieder denken kann.
„Er zwingt dich, Dinge zu tun, die du nicht willst. Seit deiner Jugend tust du alles für ihn, kämpfen, töten – all das nur, damit er zufrieden ist. Aber ich verrate dir jetzt etwas: Der Alvar ist niemals zufrieden. Wie soll ich dir glauben, dass du es nicht satt hast? Dass du endlich das Leben haben willst, das du verdient hast?"
Eldor schnauft und wendet seinen Blick ab, sein Gesicht im Schatten verborgen.
„Was ich verdiene?"
Er lacht trocken, bitter.
„Du hast keine Ahnung, was ich verdient habe, Valeria. Keine Ahnung, was ich getan habe – was ich getan haben muss – um heute hier zu stehen. Ich bin nicht der edle Rebell, den du gerne hättest. Da muss ich dich enttäuschen." Seine Stimme ist rau und gebrochen.
„Mag sein," gebe ich zurück, leise, aber entschlossen. „Ich habe dich kennengelernt als liebenswerten Jungen. Du warst der beste Freund meines Bruders. Du hast mit uns gespielt. Gelacht. Aber dann wurdest du zu dem Monster, das ich zu sehr verabscheue wie sonst nichts auf dieser Welt. Wo ist der Junge von früher hin? Wieso hast du meinen Bruder getötet? Wieso…", ein Schluchzer entkommt meiner Kehle. Nach einem tiefen Atemzug spreche ich weiter. "Wieso bist du so geworden? Dir kann doch nicht egal sein, was hier in deinem Königreich passiert? Dir kann nicht egal sein, was in Bonars passiert. Das glaube ich nicht."
Eldor wirft mir einen durchdringenden Blick zu, sein Gesicht jetzt im kalten Licht des Mondes deutlich zu sehen. Der Hauch von Rauch und Alkohol in der Luft scheint ihm eine dunklere, verhärtete Kontur zu verleihen. „Du willst wirklich den König töten?" Seine Stimme ist so tief, dass ich fast den Schauer in ihr überhöre. „Du bist nicht die erste, die das versuchen würde. Hast du eine Ahnung, wie paranoid der König ist? Wie viele Sicherheitsvorrichtungen er hat."
„Nein," antworte ich ehrlich. „Aber ich weiß das du eine der Personen bist, die so etwas wissen könnte. Ich weiß auch, dass niemand mich retten wird. Und ich werde nicht hier in seinem Reich mein Leben in Gefangenschaft verbringen. Ich will mein Leben selbst bestimmen, und für Ida dasselbe. Ich habe das Recht, das zu versuchen – und wenn es mich mein Tod kostet. Immerhin habe ich es versucht.."
Er sieht mich lange an, seine Augen durchdringend, ernst. Ich weiß, dass er zwischen zwei Abgründen balanciert, genau wie ich: Der Abgrund des Hasses und der Abgrund der Loyalität, in den er sich mit jedem Befehl seines Vaters stürzt. Schließlich lässt er den Kopf hängen und murmelt fast zu sich selbst:
„Nordela ist ein Land, das noch nie frei war. Und Bonaris ist nicht mehr das Land, das du kanntest. Glaubst du, ich könnte das ändern? Glaubst du, wir könnten das?"
„Wir müssen es zumindest versuchen," entgegne ich fest. „Wir müssen hoffen, auch wenn es nur ein kleiner Funke ist."
Ich trete an ihn heran, meine Hand kurz auf seiner Schulter, eine Geste, die für mich ungewohnt ist, aber in diesem Moment unvermeidlich scheint. Überrascht sieht er auf meine Hand, die auf seiner Schulter ruht.
"Gut, sollte ich mich morgen noch an unser Gespräch hier erinnern, was ich sehr bezweifle, denke ich nochmal darüber nach.", murmelt er. "Aber du solltest vorher noch etwas über den König wissen."
"Ja was denn?"
"Jetzt nicht. Morgen. Nach dem Training. Wieder hier oben."