Müde, aber mit einem neuen aufkeimenden Hoffnungsschimmer mache mich alleine auf dem Weg in unser Zimmer. Ich habe einen Plan. Wir haben einen Plan. Der Tag hat mich zermürbt. Eldor meinte, es wäre jetzt besser, wenn er mich allein lässt. Es war ein unendlich langer Tag. Eigentlich bin ich immer noch von der Orientierungsprüfung erschöpft. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken – über alles, was passiert war. Meine Beine fühlten sich schwer an, wie aus Blei, doch der winzige Funke Hoffnung hielt mich aufrecht.
Der Tag hatte so hoffnungsvoll begonnen, mit einem kurzen Moment der Nähe zu Ida. Doch schon bald war die Realität über mich hereingebrochen wie ein kalter Sturm. Der König hatte sein Versprechen gebrochen – natürlich. Warum hatte ich auch nur einen Moment lang geglaubt, Alvar besäße einen Hauch von Anstand? Dumm, naiv. Ein kurzes, bitteres Lächeln umspielte meine Lippen, während ich mir selbst diesen Vorwurf machte. Aber ich habe mich nach einem kurzen Nervenzusammenbruch wieder gefangen, weil ich mich an meinen Vater erinnert habe..
Er hat mir immer beigebracht, niemals aufzugeben, selbst wenn alles aussichtslos erschien. „Es gibt immer einen Weg, merk dir das, meine Kleine.", hatte er immer zugesagt, mit diesem warmen, festen Ton, der alle Zweifel fort wischte. Ich spürte, wie meine Mundwinkel sich leicht hoben, während eine Welle von Nostalgie über mich hinweg rollte. Ich vermisste ihn so sehr. Fünf Jahre ohne ihn, und die Trauer brannte immer noch wie am ersten Tag. Er war ein guter König und Vater. Für alle Erinnerungen mit ihm bin ich dankbar, er hat mir viel beigebracht. Ich habe ihn an jedem einzelnen Tag seit seinem Todes vermisst.
Langsam erreichte ich mein Zimmer. Die Dunkelheit im Raum war beinahe beruhigend, wie ein Mantel, der mich umhüllte. Ich machte einen Schritt hinein, doch ein plötzliches Geräusch ließ mich erstarren.
„Da bist du ja endlich", erklang eine tiefe Stimme aus der Finsternis. Mein Herz setzte einen Schlag aus, dann raste es los. Mein Instinkt übernahm, und ehe ich bewusst reagierte, hatte ich meinen Dolch aus der Halterung gerissen. Meine Augen suchten die Schatten ab, bis sie eine Gestalt auf meinem Bett ausmachten.
Die Gestalt hob die Hände, langsam und beschwichtigend.
„Hey, keine Panik. Ich bin es nur, Raven."
Meine Schultern sanken ein wenig, die Anspannung ließ nach, aber mein Atem ging immer noch schnell.
„Bei den Göttern, Raven!", keuchte ich und ließ den Dolch sinken. „Was machst du hier?"
Er grinste mich an, dieses typische, selbstsichere Grinsen, das mich gleichermaßen beruhigte und ärgerte.
„Dich überraschen", antwortete er und grinste verlegen, als sei es die offensichtlichste Sache der Welt.
Ich schüttelte den Kopf, steckte den Dolch zurück in seine Scheide und schloss die Tür hinter mir. Mein Blick wanderte unsicher zu ihm. Seit unserem Kuss auf der Krankenstation vor ein paar Tagen hatte ich ihn kaum gesehen. Und jetzt? Was waren wir eigentlich? Freunde? Mehr? Ich hatte keine Ahnung, und das machte mich nervös.
Raven verschwendete keine Zeit. Mit ein paar schnellen Schritten überbrückte er die Distanz zwischen uns. Ehe ich reagieren konnte, drückte er mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Seine starken Arme schlangen sich um mich und hielten mich fest, beinahe beschützend. Erleichtert darüber, dass er mir die Entscheidung, welche Begründung für uns nun angemessen ist, abgenommen hat, erwidere ich seine Umarmung und drücke mich an ihn.
„Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht", murmelte er in mein Haar, und ich spürte, wie seine Stimme wie ein tiefer Klang durch seinen Brustkorb vibrierte. Er legte sein Kinn leicht auf meinen Kopf, und für einen Augenblick fühlte ich mich… sicher.
Ich schloss die Augen, atmete seinen vertrauten Duft ein und ließ die Anspannung des Tages für einen kurzen Moment los.
„Es geht mir gut", murmelte ich schließlich. „Wie ist deine Prüfung gelaufen?", will ich von ihm wissen.
Raven löste sich ein wenig von mir, nur so weit, dass ich seinen Gesichtsausdruck sehen konnte.
„Es ist so schön, dich wieder in den Armen zu halten", begann er, doch ich unterbrach ihn mit einem besorgten Blick.
Er hob die Hände, als wollte er mich beruhigen.
„Meine Gruppe hat versagt", erklärte er schließlich mit einem Achselzucken, als wäre es nichts. „Von uns sieben haben nur drei überlebt."
„Was?", fragte ich entsetzt. „Was ist passiert? Bist du verletzt worden?" Ohne nachzudenken, hob ich die Hände und tastete vorsichtig seine Brust ab, suchte nach Wunden.
Raven hielt meine Hände fest, ein amüsiertes Glitzern in seinen Augen.
„Nein, Vall, mir geht's gut. Aber ein verdammter Bär hat uns angegriffen. Ein riesiges Biest, das aus dem Nichts kam." Seine Stimme wurde dunkler, ernster. „Er hat einen von uns… na ja, in zwei Stücke gerissen, bevor wir überhaupt wussten, was los war."
Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog.
„Das ist schrecklich", flüsterte ich.
Raven zuckte mit den Schultern, sein Grinsen kehrte zurück. „Ich hatte Glück. Ich bin in die richtige Richtung gelaufen, und das Vieh hat einen anderen verfolgt. Danach habe ich nur noch zwei Rekruten aus meiner Gruppe gefunden. Der Rest war weg." Er erzählte es mit einer unheimlichen Ruhe.
„Wie kannst du so… gelassen sein?", fragte ich schließlich, meine Stimme zitterte vor Unglauben.
„Weil mir die anderen Rekruten völlig egal sind. Ich bin hier nur wegen dir. Und solange du nicht verletzt wird, ist alles gut.", sagte er leise, und ehe ich reagieren konnte, strich er mit seiner Hand über meine Wange. Die Wärme seiner Berührung ließ meine Gedanken kurz innehalten.
Ich wollte etwas sagen, wollte ihm all die Dinge erzählen, die ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte. Doch als er mein Kinn hob und mich zwang, in seine Augen zu sehen, schienen die Worte zu verschwinden. Dann senkte er den Kopf, seine Lippen berührten meine. Der Kuss war sanft, zärtlich, und ich spürte, wie ich mich ihm hingab. Aber tief in mir glomm ein Funke auf, ein warnendes Gefühl, dass dies… falsch war.
Raven bemerkte es nicht. Der Kuss wurde intensiver, fordernder, und ich versuchte, den Zweifel in mir zu verdrängen. Ich hatte mir einen Moment der Zärtlichkeit verdient, nach allem, was ich durchgemacht hatte.
Doch der Zweifel ließ sich nicht abschütteln. Schließlich löste ich mich von ihm widerwillig.
„Was ist los?", fragte Raven sanft und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr.
"Ich…" Ich weiß es nicht, was mit mir los ist. "Ich muss dir etwas sagen."
Vielleicht lösen sich die Gedanken auf, wenn ich ihm erzähle, was heute alles passiert ist. Mit Ida und was ich vorhin mit Eldor besprochen habe. Aber mein Bauchgefühl sagt mir jetzt schon, dass er meinen Plan, den König zu töten, abschmettern wird.
Raven sah mich einen Moment an, dann nickte er langsam.
„Vielleicht hilft es, wenn ich dir sage, was ich herausgefunden habe." Seine Stimme wurde ernster. „Ich habe einen Plan entwickelt, Vall. Noch vor der zweiten Prüfung holen wir dich hier raus."
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag, und ich starrte ihn an, unfähig zu antworten. Mit offenem Mund starre ich ihn an. Die Müdigkeit, die mich bis eben fast überwältigt hatte, löst sich mit einem Mal in einem Strudel aus Verwirrung und Beklemmung auf. Ravens Worte hängen schwer im Raum, aber es ist die Intensität in seinem Blick, die mich mehr verunsichert als der Inhalt seiner Aussage. Sein Plan? Mich hier rausholen? Was soll das heißen? Ich schlucke, mein Hals fühlt sich plötzlich trocken an.
„Raven… Was meinst du mit ‚rausholen'?" Meine Stimme zittert, und ich hasse mich dafür. Warum kann ich nicht einfach ruhig bleiben?
Ravens Grinsen wird breiter, beinahe stolz.
„Genau das, was ich sage. Du gehörst nicht hierher, Vall. Diese Prüfungen, dieses Land – das alles wird dich zerstören. Aber ich lasse das nicht zu." Seine Stimme ist weich, fast zärtlich, und doch spüre ich die beharrliche Überzeugung in seinen Worten. Er nimmt meine Hände in seine, seine Daumen zeichnen sanfte Kreise auf meine Haut, als wolle er mich beruhigen.
Ich ziehe meine Hände langsam zurück, zögerlich, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, aber auch, weil ich Raum zum Nachdenken brauche.
„Raven… ich weiß deine Sorge zu schätzen, wirklich. Aber… ich kann nicht einfach gehen."
„Warum nicht?" Seine Stimme wird eindringlicher, fast verzweifelt.
„Vall, du bist hier in Gefahr! Du hast keine Ahnung, was in den nächsten Prüfungen auf dich wartet. Und der König…" Seine Stimme wird leiser, dunkler. „Er wird dich benutzen. Genau wie er es mit allen tut."
Mein Herz zieht sich zusammen. Ich weiß, dass er recht hat. Natürlich hat er recht. Aber es ist nicht so einfach. „Ich habe Ida hier, Raven. Der König wird sie ohne mit der Wimper zu zucken töten, wenn ich von hier fliehe. Sie ist meine einzige verbleibende Familie, die ich noch habe. Und Eldor…" Ich halte inne, als ich seinen Ausdruck sehe. Seine Augen verengen sich leicht, und die sanfte Wärme in seinem Blick wird von etwas Kühlerem verdrängt.
„Eldor." Er spricht seinen Namen aus wie ein Fluch.
„Was hat er mit alledem zu tun?"
Ich schließe kurz die Augen, um einen klaren Gedanken zu fassen.
„Er hilft mir. Er… er hat mir den Rücken freigehalten. Und ich glaube, er kann noch mehr tun. Aber ich kann nicht einfach verschwinden, nicht jetzt. Wir haben… einen Plan."
Ravens Gesicht verzieht sich in eine Mischung aus Unglauben und Frustration.
„Wir? Einen Plan? Du meinst, du und dieser verwöhnte Prinz haben einen Plan?" Seine Stimme wird lauter, aufdringlicher. „Vall, wach auf! Eldor ist der Sohn des Königs. Er wird dich fallen lassen, sobald es für ihn unbequem wird! Du bist doch nicht so naiv, oder?"
„Das ist nicht fair, Raven," schneide ich ihm ins Wort, meine Stimme zittert vor einem aufkommenden Ärger. „Eldor hat mir, seit wir hier sind, geholfen, als niemand sonst es getan hat. Als jeder ander mit gehasst hatte. Das hätte er nicht tun müssen. Und ob du es glaubst oder nicht, ich glaube, man kann ihm vertrauen."
„Du glaubst? Ihm vertrauen?" Er lacht trocken, aber das Lachen erreicht seine Augen nicht.
„Und was ist mit mir? Ich versuche schon seit Jahren dich aus dem Alptraum hier rauszuholen. Ich... Ich habe alles für dich riskiert. Damit ich hier sein kann. In deiner Nähe. Ich habe mit den Rebellen hier einen Plan entwickelt. Für deine Rettung." Seine Worte treffen mich wie Schläge, und ich kann das Zittern in meiner Brust nicht ignorieren.
„Raven, hör zu…" beginne ich, doch er unterbricht mich, kommt einen Schritt näher und umfasst mein Gesicht mit seinen Händen. Seine Daumen streichen über meine Wangen, sein Blick ist eindringlich, fordernd.
„Ich brauche keine Ausreden, Vall," murmelt er, seine Stimme ist weich, fast flehend.
„Ich brauche nur, dass du mir vertraust. Lass mich dich retten. Lass mich für dich kämpfen. Wir könnten verschwinden, alles hinter uns lassen – den König, Eldor, diese Hölle. Du bist die Prinzessin von Bonaris! Wir könnten wieder in unsere Heimat zurückkehren. Die Rebellion unterstützen."
Seine Nähe macht mich nervös. Mein Herz schlägt schneller, aber nicht nur wegen seiner Worte – auch wegen meiner eigenen Unsicherheit. Etwas an seinem Ton, an der Intensität seines Blicks, fühlt sich erdrückend an. Und doch spüre ich, wie ein Teil von mir daran hängen bleibt, an der Idee, all das hinter mir zu lassen. Freiheit, ein neues Leben.
„Aber was ist mit Ida," flüstere ich schließlich, fast ohne Kraft. „Ich kann sie nicht dem König überlassen."
Ravens Gesicht verhärtet sich, und seine Hände gleiten von meinem Gesicht.
„Du willst also hier bleiben. Willst die verfickten Prüfungen durchlaufen. Und dann was? Wieder in das Schloss des Spinners gebracht werden. Wenn du die Magischen Kräfte hast. Und dies für Nordela einsetzen im Kampf gegen den Rest des Kontinents?" Seine Worte sind kalt, und ich zucke zusammen.
„Ich habe einen Plan. Und Eldor wird mir helfen." murmele ich unsicher. Es war noch nicht wirklich ein Plan, eher eine vage Idee.
„Wir können dadurch Ida und all die Menschen, die hier gefangen sind, befreien. Ich kann nicht einfach weglaufen und sie zurücklassen."
Er schaut mich lange an, und ich sehe den Kampf in seinen Augen, zwischen Wut und Enttäuschung. Schließlich schüttelt er den Kopf, nimmt einen Schritt Abstand und wendet sich ab.
„Du wirst dir dein eigenes Grab schaufeln, Vall," murmelt er, fast zu leise, um es zu hören.
Mein Herz zieht sich zusammen, und für einen Moment bin ich versucht, ihn zurückzurufen. Aber die Worte bleiben in meiner Kehle stecken. Raven öffnet die Tür, wirft mir noch einen letzten Blick zu, voller Schmerz und Zorn, und verschwindet.