Chereads / Die vier Wächter - Das Eisherz / Chapter 12 - Kapitel 11

Chapter 12 - Kapitel 11

Der alte Hörsaal war im Herzen des Hauptgebäudes. Die hohen Holzfenster ließen viel Licht des Sonnenaufgangs in den Raum fallen. Das Sonnenlicht fiel auf die leicht abgeriebenen Holzbänke, die in geschwungenen Reihen von der Wand bis zu den Fenstern reichten und wurden nach hinten immer höher, wie bei Tribünen. Der Boden besteht aus dunklen, polierten Dielen, die bei jedem Schritt ein leises Knarren von sich geben. Vorne steht ein massives Holzpult und ein Schreibtisch. Alte Landkarten tapezieren die Wand neben der grünen Tafel. Der Professor Cerus sitzt bereits in seinem Ledersessel hinter dem Schreibtisch und blättert in einem Geschichtsbuch. Alle Rekruten strömen herein und suchen sich eine Sitzgelegenheit. Ich beeile mich, um neben Rayn einen Platz zu ergattern. Ein Gespräch mit ihm ist dringend notwendig. Ich muss herausfinden, wer er genau ist und wie er tickt. Denn wenn Eldor auch nur eine Frage zu letzter Nacht stellt oder eine dumme Bemerkung in diese Richtung macht, bin ich geliefert. Meine Lüge wird auffliegen und ich würde in größeren Schwierigkeiten stecken als ohnehin schon. Und ich muss dringend aufpassen, um nicht in die Schussbahn des Königs zu gelangen. Alvar lässt sich immer wieder neue Strafen für uns einfallen, wahrscheinlich aus Langeweile. Da ich aktuell nicht im Schloss bin, kann es sein, dass er seinen Zorn auf mich an Ida auslässt. Sie meinetwegen bestraft, um mich durch ihr Leiden zu quälen. Das würde ich mir nie verzeihen können. 

Unsere Truppe ist komplett. Wir sitzen alle in der gleichen Reihe ziemlich mittig. Auf dem Platz neben Ryan kommt als erstes Kay, dann Finly, Ingrid und Ron. Auf dem letzten Platz in der Reihe kommt Eldor. Wie immer wirkt er desinteressiert. Lässig sitzt er nach hinten gelehnt auf seinem Stuhl. Der Knöchel seines Beins ruht auf seinem Knie. Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt eine Sekunde lang auf mir hängen. Mein Herz setzt einen Moment aus, als sein eisblauer Blick, den meinen streift. In seinem Gesicht sind keine Emotionen abzulesen. Denn ist der Moment auch schon wieder vorbei und er wendet sich Ron zu und sagt ihm etwas. 

Wie stelle ich es jetzt am besten an, ein Gespräch mit Ryan anzufangen? Das kann ja nicht so schwer sein. Meine sozialen Kompetenzen sind zwar nicht wirklich gut und auch etwas eingerostet, wenn man das so sagen kann nach 5 Jahren Gefangenschaft, aber ich kann es einfach mal versuchen. Es wird schon schiefgehen. 

"Hi Rayn." sage ich und komme mir dabei unendlich dumm vor. Überrascht sieht Ryan mich an. Meine Lippen formen sich zu einem freundlichen Lächeln, zumindest versuche ich das. 

"He Valeria.", entgegnet er mir und wendet sich mir zu. Neugierig mustert er mich. Seine braune Haut lässt ihn aus der Menge der Rekruten herausstechen, mich erinnert das warme Braun an süße Vollmilchschokolade aus meiner Kindheit. Seine Eltern stammen aus Sumanien, das komplett im Süden des Kontinents Arona liegt. Die meisten hier im Norden haben eher einen blassen Hautton, außer Eldor. Er ist zwar nicht zu dunkel wie Ryan, aber seine Haut wirkt wie die seiner Mutter, gut gebräunt wie Karamell. Die dunkelbraunen Haare hat Ryan auf wenige Millimeter Länge geschnitten. Man kann trotzdem erahnen, dass er kräuselnde Locken hätte. Seine großen Augen sind dunkelbraun. Bei schlechtem Licht könnte man bestimmt die Iris von der Pupille nicht unterscheiden. Im Großen und Ganzen betrachtet hat er ein hübsches Gesicht. 

"Wie war euer Abend gestern?", frage ich so unauffällig wie möglich und kratze mich nervös am Kinn. Versuche irgendwie ins Gespräch mit ihm zu kommen. Er lehnt sich etwas zurück. Bei seiner Bewegung knarzt der alte Stuhl unter ihm. 

"Gut. Wir haben ein, zwei Bier getrunken und kurz das Dorf angesehen und sind dann recht zeitnah wieder in die Kaserne gegangen." Er schenkt mir ein kleines Lächeln, was eine kleine Lücke zwischen seinen vorderen beiden Zähnen entblößt. 

"Oh Toll." Was jetzt? Komm schon. Ich werde es doch hinbekommen ein Gespräch mit jemandem zu führen. "Nächstes Mal werde ich auch mitgehen. Wird es ein nächstes Mal geben?", meine ich.

"Bestimmt. Du bist jederzeit willkommen. Sag es nicht weiter, aber falls du es gestern nicht bemerkt hast Finly hatte echt schiss vor dir.", flüstert er mir zu und deutet hinter sich, wo Finly sitzt. Ryan grinst belustigt. 

"Er denkt, dass man in Bonaris schon als Kind zu einem Killer ausgebildet wird, zumindest erzählt man sich das hier in Nordela so. Finly ist als Kind viel rumgereist mit seinem Vater, der Händler ist, und hat uns gestern einige aufregende Geschichten über Bonaris erzählt."

Welche Ironie. Man erzählt sich, dass in Bonaris jeder ein top ausgebildeter Soldat ist, während das gesamte Land besiegt wurde und jetzt unter dem Einfluss des Nordens steht. Das schreit förmlich nach einer Propaganda von König Alvar. 

"Und glaubst du ihm? Denkst du, ich bin gefährlich?", will ich neugierig wissen. Ryan beugt sich leicht zu mir vor und wird ganz ernst bevor er sagt:

"Ich denke, dass du genauso bist wie ich. Jemand, der nicht ganz hierher in dieses Land passt, ob man will oder nicht. Egal wie sehr man es versucht, nichts ändert etwas daran und das macht dich noch lange nicht gefährlich. Also nein, ich habe keine Angst vor dir."

Dankbar lächle ich ihn an. Gut zu wissen, dass nicht alle hier in der Kaserne mich für ein Monster halten oder mich umbringen wollen, weil ich im falschen Land geboren bin. Scheinbar ist Ryan ein ganz netter Kerl, zumindest ist das jetzt mein erster Eindruck. 

Irgendwie muss ich jetzt noch herausfinden, ob meine Lüge von heute Morgen überhaupt annähernd glaubwürdig für Eldor erschienen ist. Denn obwohl er mich in Ruhe gelassen hat und gegangen ist, glaube ich nicht, dass er mir meine Geschichte abgekauft hat. 

"Danke. Ich hätte da noch eine Frage: Du hast gestern Abend nicht zufällig Eldor gesehen, oder?"

Ich muss herausfinden, ob er auch in der Taverne war. Denn wenn ja, wäre meine Lüge, die ich ihm vorhin aufgetischt habe, totaler Schwachsinn. 

Angst überkommt mich. 

Was, wenn Eldor doch noch dem König Bescheid sagt, weil er weiß, dass ich gelogen habe? Wenn Eldor auch im Guten Tropfen war, dann hat er mich sofort durchschaut. Aber warum hätte er mich dann einfach gehen lassen?

Ryan holt schon Luft, um mir zu antworten, aber ehe er mir antworten kann, räuspert sich Hoheprofessor Cerus, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Im ganzen Saal wird es sofort ruhig. 

"Herzlich willkommen zur ersten Unterrichtsstunde und vielen Dank, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Zu Beginn möchte ich Ihnen sagen, dass die Vorlesungen immer vormittags alle zwei Tage stattfinden. Wie bereits erwähnt, sind die Informationen, die sie hier erhalten, wichtig für die Auslese und das Wissen erleichtert ihnen die bevorstehenden Prüfungen."

Seine monotone Stimme langweile mich schon nach den ersten zwei Sätzen, denn noch zwinge ich mich aufzupassen. Wenn ich schon keine gute Kämpferin bin, muss ich mit meinem Wissen punkten können.

"Heute beginnen wir mit der Entstehungsgeschichte der Minen..."

Ein kurzer Blick durch die Reihen verrät mir, dass Raven in einer der ersten Stuhlreihen sitzt. Drei Reihen vor uns sitzt die Gruppe, die mich gestern verfolgt hat. Zumindest glaube ich den großen muskulösen Typ wiederzuerkennen, aber sicher bin ich mir nicht. Dann schaue ich zu Eldor, der seine Arme verschränkt hat und so aussieht, als könnte er jeden Moment einschlafen, kein Wunder bei der einschläfernden Stimme des Professors. Finly hat ein Notizbuch vor sich liegen und ist bereit zum Mitschreiben. 

Vor dem Professor liegt ein großes uraltes Buch, über das er sich beugt und dann zu erzählen beginnt. 

Die vier Minen der göttlichen Magie sind in den jeweiligen Ländern verteilt. Sie sind die Quelle der Macht, die uns unsere Fähigkeiten verleihen wird. Man muss einfach nur die tödlichen Prüfungen erfolgreich bestehen. 

Kinderleicht, also. 

Die Minen sind gefüllt mit unendlich vielen schimmernden Kristallen. Diese habe ich schon als Kind auf Zeichnungen in Büchern bewundert. Die Kristalle in Bonaris funkeln in allen vorstellbaren Grüntönen. Moosgrün, Apfelgrün, Limette, Grasgrün, Olive Grün, Mintgrün und alles andere dazwischen. 

In der Höhle hier im Norden schimmert es nur so von bläulichen Steinen. Wie der Ozean bei Mittagssonne. 

Diese Magiesteine enthalten Göttliches Äther. 

Die göttliche Segnung, die man bei der Auslese bestenfalls erhält, sollte man sich als würdig erwiesen haben, stärkt den menschlichen Körper. Die Auserwählten sind danach schneller und stärker. Ihre Wunden heilen schneller, sie bekommen keine Erkältung oder Grippe. Einfach gesagt, man wird übermenschlich. 

Die vier Schöpfungsgötter haben diese Magie dem Menschen zum Schutz vor dem Todesgott gegeben.

Neben den göttlichen Segnungen gibt es auch die seltenen Fälle einer göttlichen Gabe. 

Nur wenige, vielleicht jeder zwanzigste Auserwählte erhält eine göttliche Gabe. Die vier Gaben, die man von Gott Narfi erhalten kann, sind die Kontrolle von Eis und Wasser, die Kontrolle über die Dunkelheit, das Gedankenlesen und die Telekinese. Auf weitere Einzelheiten geht der Professor nicht ein, nur dass sich jede Fähigkeit bei jeder Person anders entwickeln kann. Also alles sehr individuell. Während eine Person mit telekinetischen Fähigkeiten gerade mal mit einem Stift auf Papier schreiben kann, kann eine andere Person ganze Felsbrocken aus Berge reißen. 

Die Göttin Esta verleiht ihren Auserwählten die Kontrolle über Pflanzen, Heiler Fähigkeiten, die Gabe der Gestaltwandlung oder die Empatengabe, bei der man die Gefühle anderer sehen kann. Wie es in den anderen Ländern ist weiß ich nicht, und Cerus will es uns auch nicht sagen. 

Die einzige Bedingung der Götter war, dass diese Fähigkeiten nur zum Schutz gegen den Todesgott und zur Hilfe der Menschen eingesetzt werden dürfen.

Anscheinend eine sehr dehnbare Regel, wenn man weiß wie brutal und eigennützig der König Alvar meine Heimat zerstört hat. 

Nach seinem langen monotonen Vortrag entlässt uns der Hoheprofessor Cerus endlich.

Sofort strömten alle Rekruten zielstrebig Richtung Ausgang, um den Saal zu verlassen. 

Unsere Truppe trifft sich am Nachmittag wieder zum Training. 

Gerade wollte ich zu Kay gehen, um mit ihm wieder zu üben. Gestern hat er mich ja ziemlich fertig gemacht. Aber vielleicht bringt der neue Tag neues Glück oder so. Der Prinz hat offenbar andere Pläne mit mir und versperrt mir den Weg zu Kay. 

Eldor steht vor mir mit verschränkten Armen und sieht mich abwartend an. 

Oh scheiße, er weiß es, oder?