Raven und ich sitzen uns gegenüber im Schneidersitz auf seinem Bett. Er hält eine meiner Hände in seiner und zeichnet beruhigende Kreise mit seinem Daumen auf meinen Handrücken. Dann beginnt er zu erzählen, von Anfang an:
"An dem Tag der Eroberung, wie man es hier zu Lande nennt, war ich schon sehr früh auf den Beinen, um mit meinem Vater auf die Jagd zu gehen. Der Angriff auf das Schloss begann vormittags, zu der Zeit war ich noch im Wald. Als wir wieder in die Hauptstadt Livnar kamen, fielen mir zuerst die leeren Straßen auf. Alles war still. Ungewöhnlich still. Keine Kinder, die spielten. Die Geschäfte waren verriegelt. Wir ritten näher an das Schloss heran und da trafen wir auf die ersten Nordelischen Soldaten. Und mit den Soldaten erschienen auch die ersten Opfer. Tote lagen auf den Straßen. Verletzte krümmten sich vor Schmerz. Dieser Anblick brannte sich für immer in mein Gedächtnis ein. Ich wollte ihnen helfen, aber mein Vater hielt mich zurück. Wir durften nicht entdeckt werden. Sonst wäre es uns nicht viel anders ergangen."
Ein Schauer durchfuhr ihn, als er an diesen Tag zurückdenkt. Er atmete tief durch und erzählte dann weiter. "Also versteckten wir uns bei einem Freund meines Vaters. Er wohnte direkt am Marktplatz in Livnar. Wir versteckten uns in seinem muffigen kleinen Keller. Erst einen Tag, dann zwei Tage. Aus zwei Tagen wurde eine Woche. In der Zeit wurde ich fast verrückt. Die Nordelischen Soldaten versprachen den Einwohnern der Stadt, dass sie in Sicherheit wären, wenn sie sich ruhig verhielten. Nur das Königshaus sollte vernichtet werden. Ich hatte solche Angst um dich."
Raven fährt sich mit den Fingern durchs Haar und macht es dadurch noch unordentlicher, als es ohnehin schon ist. Er atmete einmal tief durch, um sich zu sammeln.
"Du hättest nichts machen können. Ich und meine Schwester wurden noch am selben Tag des Angriffes gefangen genommen und in die Hauptstadt Nordelas gebracht. Wie seid ihr aus Livnar geflohen?", fragte ich und beugte mich neugierig ein Stück nach vorn zu ihm.
"Anfangs suchten sie nach meinem Vater, als Berater des Königs war er auf ihrer Todesliste ganz weit oben, aber nach zwei Wochen wurden die meisten Truppen wieder abgezogen. Eine Flucht war dann eigentlich ganz einfach."
Es gab dann noch eine Frage, die mir brennend auf der Zunge lag, aber ich hatte Angst vor der Antwort. Kurz zögerte ich musste sie aber letztendlich doch stellen: "Wie sieht es heute in Livnar aus?"
In meinem Kopf erscheinen Bilder von den belebten hellen Gassen von Livnar. Die tief grünen Kletterpflanzen, die sich an vielen Hauswänden hoch reckten. Als Kind liebte ich es, zwischen den vielen bunten Ständen am Basar durch zu rennen und mich vor meinem Kindermädchen zu verstecken. Die exotischsten Düfte aus dem ganzen Kontinent, die vielen Leute, die frei handeln durften. Es war eine schöne Stadt.
"Der letzte Bericht, den ich darüber erhalten habe, sagte, dass König Alvar einen Regenten namens Thornus eingesetzt hat. Ein widerlicher Typ. Livnar ist noch weitestgehend in Takt. Aber den Bewohnern geht es nicht gut. Sie werden ausgebeutet. Die Steuern sind zu hoch. Die Strafen sind zu brutal. Der Ostflügel des Schlosses ist wohl abgebrannt. Seit dem Angriff vor 5 Jahren war ich aber auch nicht mehr dort."
Die Wut auf den König steigt mir wieder den Hals hoch. Er hat unser Königreich immer noch fest im Griff und zerstört es jeden Tag ein Stück mehr.
"Irgendwann wird er dafür bezahlen.", sagt er und sieht mich entschlossen an.
"Ja, dafür sorge ich.", stimme ich ihm zu.
"Aber warum bist du hier bei der Auslese?"
Ravens Körper spannt sich kurz an. Er überlegt kurz, eher er antwortet.
"Wir haben einen Widerstand gegründet. Wir nennen uns die Nebellilien. Er wird von einem kleinen Rat geleitet, darunter mein Vater."
Die Nebellilien. Von diesem Widerstand habe ich noch nie gehört.
"Unsere Spione im nordelischen Palast haben uns verraten, dass du hier bist. Also habe ich mich hier eingeschleust."
Überrascht hebe ich meine Augenbrauen.
"Du bist hier wegen mir?"
"Natürlich wegen dir, du bist eine der letzten königlichen Familienmitglieder der Caelum… Und du bist immer noch meine engste Freundin. Ich würde in die Hölle gehen, um dich zu beschützen."
Erneut steigen mir Tränen in die Augen. So lange habe ich mich nicht mehr so lebendig und behütet gefühlt wie jetzt in diesem Augenblick. Ich hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlt, jemanden zu haben, dem man vertrauen kann. Der zu einem hält, ohne Gegenleistungen zu vordern.
Ich bekomme nur ein leise "Danke." über die Lippen, was nicht mal ansatzweise ausreicht, um auszudrücken, was ich fühle.
"Du brauchst dich doch nicht bedanken. Wir halten doch für immer zusammen oder hast du unser Versprechen schon vergessen?"
"Nein, habe ich nicht.", sage ich und lächle bei dem Gedanken an unser Versprechen aus der Kindheit.
Wir, als beste Freunde für immer, geben uns das Versprechen niemals, den anderen zu Verpetzen. Nie, niemals. Wir sind immer füreinander dar. Denn wir sind BESTE FREUNDE! Und das bleibt für immer so.
"Du sagtest, ihr habt Spione hier?"
"Wir haben Spione und Verbündete auf dem ganzen Kontinent. Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie viele geheime Informationen wir bekommen."
Mit großen Augen starre ich ihn an. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal an unserer bonarischen Frühlingsfeier teilnimmt. Dort treten die talentiertesten Gesegneten der Göttin Esta auf und präsentieren ihre besonderen Gaben. Zu meinen lieblings Gesegneten gehörten immer die Floristen. Diese können alle Pflanzen kontrollieren und wachsen lassen und das alles nur mit einer Handbewegung.
Aber jetzt zurück zum Widerstand. Nie kam es mir in den Sinn, dass so etwas wie ein bonarischer Widerstand existiert. Als Raven mein erstauntes Gesicht sieht, lacht er auf.
Gespielt beleidigt schlage ich ihm leicht gegen die Schulter, in unserer Kindheit hat er mich auch immer schon ständig ausgelacht. Seine Augen leuchten mich amüsiert an. Meine Aufmerksamkeit wandert zu seinen grinsenden Lippen. Seine echt schönen Lippen.
Als wir im Alter von 15 Jahren waren, haben wir uns einmal geküsst. Ich habe Raven damals dazu überredet, dass er doch mit seiner besten Freundin üben sollte, bevor er auf sein erstes Date geht. Widerwillig hat er mir zugestimmt. Als sich unsere Lippen berührten, kribbelte mein ganzer Körper. Es war unbeholfen, aber es war auch auf eine Art und Weise unglaublich toll. In diesem Moment wusste ich, es war eine verdammt dumme Idee ihn zu Küssen. Dass dieser erste Kuss bis heute auch mein einziger ist, ist beschämend. Raven ging am Abend mit seinem Date aus und erzählte mir davon mit allen Einzelheiten am nächsten Tag. Seine Verabredung war toll gelaufen und er war glücklich, weshalb ich mich entschied, meine damaligen Gefühle vor ihm nie zu erwähnen. Ich wollte unsere Freundschaft nicht zerstören.
Jetzt da ich so nah vor ihm sitze und sein Gesicht in allen Einzelheiten mustere, kann ich spüren wie diese dummen Gefühle wieder hochkommen. Die Hitze, die mir in die Wangen steigt. Seine neue Narbe, die über sein rechtes Auge geht, lässt ihn irgendwie heißer aussehen. Männlicher.
Um mich wieder zu fangen, räuspere ich mich und suche schnell ein Thema, worauf ich die Aufmerksamkeit lenken kann. Also frage ich das Erste, das mir einfällt.
"Woher kommt die Narbe?", frage ich und streiche mit einem Finger über mein Gesicht an der Stelle, wo bei ihm die Narbe verläuft. Von seiner Augenbraue über sein Auge bis zur Wange.
"Du müsstest den anderen sehen.", verschmitzt lächelt er mich an.
"Kurz nach unserer Flucht sind wir von Soldaten entdeckt worden. Es kam zum Kampf. Da hat es mich erwischt."
"Sieht gut aus. Lässt dich härter aussehen. Ohne hättest du wohl immer noch das Milchbubi Gesicht.", ziehe ich ihn auf wie in alten Zeiten.
"Ha ha.", meint Raven nur dazu und verdreht seine Augen.
"Ich hab jetzt aber genug erzählt. Nun bist du an der Reihe. Fangen wir am besten damit an, wer die Typen vorhin auf dem Gang waren und warum sie dich verfolgt haben?"
Ich lehne mich ein Stück zurück und stütze mich mit meinen Händen ab.
"Frag mich was Leichteres. Da jetzt alle wissen, wer ich bin, schätze ich mal, ich bin für sie ein Ziel."
Unwillkürlich denke ich an Eldor, als er gesagt hat, ich werde ihn noch anflehen, dass er in mein Zimmer einziehen soll.
"Scheiß Arschlöcher.", kommentiert Raven wütend.
Ich erzähle ihm noch von meiner Gefangenschaft im Schloss. Die Bestrafungen des Königs, die Schläge und die Auspeitschungen, ließ ich aber aus, um ihn zu schonen. Rede ich mir ein. Aber ich denke, ich kann nicht mit ihm darüber reden, ihm sagen, wie schwach ich bin, dass mir jemand so etwas antun kann. Stattdessen erzähle ich ihm davon, wie es dazu kam, dass ich hier bei der Auslese mitmache.
"Oh. Es ist schon nach 22 Uhr. Du kannst jetzt nicht mehr in dein Zimmer gehen. Oder hast du schon die Ausgangssperre vergessen?"
Geschockt sehe ich ihn an. Wie konnte die Zeit so schnell vergehen?
"Willst du hier bleiben? Du kannst auf meinem Bett schlafen.", schlägt Raven mir vor.
Ich habe die Zeit komplett vergessen. Scheiße. Das Risiko, von den Wachen erwischt zu werden. Und direkt am zweiten Tag hier einen Verstoß gegen die Regeln zu begehen ist auch nicht empfehlenswert. Alles, was ich mache, wird bestimmt an den König weitergegeben. Nur die Götter wissen, was er sich dann wieder als Strafe einfallen lässt. Wohl oder übel muss ich sein Angebot annehmen und hier bleiben.
Letzt endlich schlafe ich in seinem Bett. Raven liegt vor dem Ofen auf dem Boden, nur mit einer Decke zugedeckt.
Bevor ich einschlafe, ist mein letzter Gedanke, dass ich auch nichts dagegen hätte, wenn er bei mir im Bett liegen würde.