Leise drücke ich die Türklinke zu meinem Zimmer nach unten. Sobald die Ausgangssperre zu Ende war, also kurz nach 5 Uhr, habe ich mich auf den Weg zu meiner Unterkunft gemacht. Mit Raven habe ich mich für später verabredet. Gestern habe ich ihm vorgejammert, dass ich womöglich in einem der Kämpfe hier kläglich versagen und sterben werde, daraufhin hat er mir ein privates Training versprochen. Beim Gedanken an ihn schleicht sich ein Grinsen auf mein Gesicht. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ida ist immer noch im Schloss gefangen, also habe ich es nicht verdient glücklich zu sein. Ich muss mich konzentrieren. Mit einem leisen ächzen geht die Tür zu meinem Raum auf. Ich will mich nur kurz waschen und…
Meine Bewegung gerät ins Stocken.
Vor mir steht er.
Mindestens einen Kopf größer als ich sieht er mich von oben herab an. Er muss mindestens 1,90m groß sein. Noch nie ist er mir so groß vorgekommen. Eigentlich bin ich gar nicht klein mit meinen 175cm, aber jetzt, wo er sich vor mir auftürmt, komme ich mir winzig vor. Seine dunklen Augenbrauen sind wütend zusammengezogen. Seine Atmung geht unkontrolliert vor Zorn.
"Wo warst du?", fragt mich der Prinz harsch.
Sein scharfer Ton durchschneidet die Stille im Raum, wie ein heißes Messer durch Butter. Ich zucke bei seinen Worten zusammen. Völlig perplex sehe ich ihn an. Die Augen weit aufgerissen vor Schreck. Weiß nicht, was ich sagen soll? Oder was ich machen soll?
"WO WARST DU?", schreit er mich laut an. Schnell schließe ich die Tür hinter mir, um uns vor neugierigen Ohren auf dem Gang besser zu schützen. Kurz habe ich überlegt, einfach wegzulaufen, aber was hätte das gebracht?
"Was machst du hier?", frage ich immer noch unfähig die Situation richtig einzuordnen. Wieso ist Eldor hier in meinem Zimmer? Ich habe doch den einzigen Schlüssel für diesen Raum. Oder?
"Was ich hier mache? WAS ICH HIER MACHE?", ruft er und sieht mich verständnislos an. Etwas blitzt in seinem Blick auf, aber so schnell es da war, ist es auch wieder verschwunden. Unmöglich für mich, diesen Blick zu deuten. Seine Kiefermuskeln sind angespannt.
"Wo warst du?", fragt er wieder und mustert mich von oben bis unten. Als ob er Spuren auf mir finden könnte.
Als ich nicht sofort antworte, spricht er einfach weiter:
"Ist dir klar, dass der König nur darauf wartet, dass du einen Fehler machst. Ich habe den Befehl, jeden deiner Schritte zu überwachen und ihm jedes noch so kleine unwichtige Detail zu melden."
Seine Hände ballen sich zu Fäusten und öffnen sich wieder.
"Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich das nicht getan habe, Prinzessin. Ich war kurz davor, Alarm zu geben. Jede Wache hätte nach dir gesucht. Nur die Götter wissen, was sich der König für dich einfallen lassen hätte zur Bestrafung. Du schuldest mir etwas, Valeria. Also, beantworte mir die Frage: Wo warst du die ganze Nacht über?"
Diesmal ergreift er nicht sofort wieder das Wort, sondern verschränkt seine muskulösen Arme vor seiner harten, in Leder gehüllte Brust und sieht mich abwartend an. Seine eisblauen Augen lassen mich leicht frösteln, bei seinem intensiven Blick. Wie können Augen nur so blau sein? Fast schon unnatürlich. Dennoch entgehen mir seine dunklen Augenringe nicht. Eldor wirkt müde. Hat er die ganze Nacht nicht geschlafen? Seine sonst so ordentlichen tiefschwarzen Haar stehen in alle Richtungen ab. Komplett in Schwarz gekleidet steht er wütend vor mir. Sein tiefschwarzer warmer Pelzumhang liegt über seinen Schultern, bereit, jederzeit nach draußen in die Kälte zu treten. Seine Dolche sind griffbereit an seiner Brust platziert. Immer bereit für den nächsten Mord.
Ein Schauer der Angst durchfährt mich bei seinem Anblick. Aber das darf ich mir auf keinen Fall anmerken lassen.
Ein Schauer der Angst durchfährt mich bei seinem Anblick. Aber das darf ich mir auf keinen Fall anmerken lassen.
Ich bin sowas von am Arsch.
Was soll ich jetzt sagen? Lügen. Die Wahrheit.
Er kennt Raven bestimmt noch von früher. Was, wenn er ihn erkennt? Wird er ihn verhaften lassen?
Töten? Ausliefern?
"Ich… war… bei Finly, Rayn und Kay im Guten Tropfen."
Misstrauisch sieht er mich an. Die Wut weicht aus seinem Gesicht. An ihre Stelle kommt Misstrauen und Neugier, die man deutlich in seiner Stimme hören kann.
"Du warst in einer Taverne. Aber doch sicher nicht die ganze Nacht?", meint er und will mich mit dieser Frage prüfen. Mich aus dem Konzept bringen. Er registrierte jeden meiner Bewegungen. Jeden Atemzug. Alles, was auf eine Lüge hindeuten könnte.
"Nein, ist doch klar. Ich bin bei Rayn übernacht geblieben."
"In der Männer Unterkunft? Bei Rayn? Du weißt aber schon, dass Frauen in diesen Unterkünften keinen Zutritt haben?"
"Ja. Aber… es war schon spät. Und ich wollte nicht nach der Ausgangssperre erwischt werden."
Zumindest ein Teil entsprach der Wahrheit.
"Mh.", brummt Eldor nur nachdenklich, was mich verunsichert. Überprüfent mustert er mich. Bitte lass ihn diese Lüge schlucken. Bitte.
"Hätte nicht gedacht, dass du auf den exotischen Typ stehst, und dass du so schnell mit jemandem Fremden in die Kiste springst."
Es ist immer noch ein Schimmer von Misstrauen in seinem Blick, aber er lässt seine verschränkten Arme sinken. Meine Wangen werden rot. Denkt er etwa, ich hätte mit Rayn geschlafen? Ich habe noch keine drei Worte mit diesem Typ gewechselt. Aber das muss Eldor ja nicht wissen.
"Ich hab doch nicht…", setzte ich an.
"Also, hätte ich das nur früher gewusst."
Er kommt einen Schritt näher. Dann noch einen. Und noch einen.
Bis er direkt vor mir steht.
Seine eisblauen Augen blicken in die meinen. Seine vollen Lippen bewegen sich langsam als es sagt:
"Falls dich nochmal solche Gelüste überkommen..." Herausfordernd sieht er mich an. Bestimmt ist mein Gesicht schon knallrot, zumindest ist mir unglaublich warm. Wieso ist mir so warm?
Er beugt sich noch weiter zu mir vor und flüstert mir ins Ohr:
"... Kannst du auch jederzeit zu mir kommen."
Er lehnt sich wieder ein Stück zurück, ist aber dennoch nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
Er hebt seine Hand und kurz, denke ich, er möchte mich berühren. Ich will schon zusammenzucken und von seiner Berührung zurückschrecken. Doch sein Arm geht an mir vorbei und er greift nur nach dem Türknauf. Als ich mich wieder fange und mir die Bedeutung seiner Worte klar wird, schaue ich ihn wütend an.
"Eher würde ich mich für den Rest meines Lebens vom König einsperren lassen!", schnauze ich ihn an.
Er zuckt nur mit den Schultern. Amüsiert grinste er mich schief an.
"Wenn dir das lieber ist. Aber dir entgeht etwas. Kannst du jetzt ein Stück zur Seite treten, ich muss zu einer Besprechung der Truppenführer."
Ich trete zur Seite und lass ihn durch. Angewidert verziehe ich mein Gesicht. Der Prinz ist in jeder Hinsicht widerlich. Seine Schuld ist es, dass meine Schwester und ich in seinem Königreich festgehalten werden. Ohne ihn hätten wir entkommen können. Weiter traue ich mich nicht, den Gedanken weiterzuführen. Viel zu viele wenn und abers. Möglichkeiten, die hätten sein können. Gedanken, die zu nichts führen außer Wut und Trauer in mir.
"Oh und solltest du noch einmal nächtlich unterwegs sein, werde ich dieses Mal nicht zögern, den Alarm auszulösen und den König zu informieren.", ein tödlicher Klang schwingt in seiner Stimme mit.
Dann war er weg.