"He, Valeria!" Ich drehe mich zögerlich um. Finly steht vor mir und kratzt sich verlegen am Arm. Was will er von mir? Ich möchte mich doch einfach nach all dem endlich auf die Suche nach Raven machen. Die ganze Zeit über geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Nervös steigt Finly von einem Bein auf das andere. "Ich hab mich gefragt… wir haben uns gefragt, ob du noch mit uns mitkommen willst."
Mein Blick wandert an ihm vorbei. Hinter ihm stehen mit etwas Abstand Ryan und Kay. Ryan spricht gerade mit Kay, oder besser gesagt versucht er ein Gespräch zu führen. Was sich mit Kay wohl eher wie ein Selbstgespräch anfühlt. Mit etwas Abstand zu ihnen stehen die Anderen. Eldor, Ron und Ingrid machen sich zusammen auf den Weg nach draußen. Offenbar haben die drei kein Interesse daran, etwas mit den anderen zu machen. Eldor blickt kurz zu mir aber wendet sich schnell wieder Ron zu. Seinen Blick konnte ich nicht genau deuten. Es war eine Mischung aus Neugier und Anspannung, die kurz aufblitzte, aber ich könnte mich auch täuschen.
"Wohin mit kommen?", frage ich, anstatt einfach mit einem klaren Nein zu antworten. Finly kratzt sich wieder am Arm und sieht über seine Schultern zu den anderen.
"Ryan meint, im Dorf östlich der Kaserne gibt es eine Art Taverne namens: Guter Tropfen! Wir wollen mal kurz vorbeischauen. Hast du Lust mitzukommen?"
"Klingt echt nett, aber der Tag war echt lang und in zwei Stunden ist sowieso Ausgangssperre. Aber trotzdem danke. Beim nächsten Mal vielleicht."
Ich schenke ihm ein kurzes, entschuldigendes Lächeln, was mich all meine Kraft kostet. Bevor er noch etwas erwidern kann, drehe ich mich um und mache mich zielstrebig auf den Weg nach draußen. Ergreife schon fast die Flucht vor meinen Teamkollegen. Heute war mir alles zu viel.
Ich war fünf Jahre eingesperrt.
Fünf Jahre durfte ich nur aus meinem Zimmer, wenn es der König erlaubte.
Fünf Jahre hatte ich fast keinen Kontakt zu irgendwelchen Menschen.
Keine Freunde. Keine Beziehungen.
Keine normalen sozialen Kontakte.
Nur ich und meine Schwester. Und jetzt… Jetzt bin ich quasi frei. Die kalte Abendluft empfängt mich, als ich aus dem Gebäude trete. Zum ersten Mal seit so langer Zeit bin ich allein und kann innerhalb der Kasernenmauern machen was ich will. Und wenn ich die Auslese überstehe, bin ich komplett frei.
Ohne Einschränkung.
Meine Gedanken landen wieder beim heutigen Training.
Es macht mich so wütend, dass ich so schwach bin.
Niemals werde ich die Prüfungen bestehen. Niemals werde ich frei sein.
Nein, ich werde stattdessen in einem anonymen Grab landen. Und meine Schwester wird den Rest ihres Lebens in der Hölle auf Erden verbringen müssen. Verheiratet mit einem Monster.
Noch wütender macht mich, dass sich Kay sich merklich zurückgehalten hat und mich schonte bei unserem Kampf, trotzdem hatte ich keine Chance ihn auch nur mit einem Schlag zu treffen. Wie sollte ich die beschissene Auslese nur überleben?
Erschöpft und müde mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Dort würde ich mich kurz frisch machen und mich dann auf die Suche nach Raven begeben. Träge schlürfe ich über den Hof. Meine Arme schmerzen. Meine Beine brennen. So habe ich mir die Auslese nicht vorgestellt. Aber wie hab ich sie mir eigentlich vorgestellt?
"Dan, sieh mal da vorne. Das ist doch die kleine Bonarische Schlampe." Der Name kommt mir sofort bekannt vor. Jemand hat ihn heute morgen beim Appellplatz erwähnt.
Oh nein. Bitte nicht. Nicht jetzt.
Ein Blick über meine Schulter verrät mir, dass hinter mir eine ganze Truppe mit sieben Personen auf mich zukommt. Unauffällig beschleunige ich meine Geschwindigkeit. Auch die Schritte hinter mir werden schnell. "Hey du, da warte doch mal!", ruft mir eine tiefe Stimme zu. Dann beginne ich zu rennen. Ohne auch nur noch einmal einen einzigen weiteren Blick nach hinten zu werfen, laufe ich so schnell ich kann Richtung der Gebäude vor mir. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich bei den Unterkünften.
Vielleicht gelingt es mir, mich dort irgendwo einzuschließen oder zu verstecken. An der ersten Unterkunft, bei der ich ankomme, laufe ich hinein. Die Tür knallt hinter mir zu. Es ist nicht das Gebäude in dem ich wohne, aber es ist mir jetzt im Moment scheiß egal. Meine Verfolger sind bis jetzt noch nicht durch die Eingangstür gekommen. Vor mir erscheint ein langer Korridor. Bei der ersten Abbiegung laufe ich nach links. Ich bin mit einem so hohen Tempo unterwegs, dass ich nicht abbremsen kann, als direkt hinter der Kurve jemand steht. Mit voller Geschwindigkeit krache ich in die Person hinein. Durch den Aufprall verliere ich kurz meine Orientierung. Hastig entferne ich mich ein Stück von dem Kerl vor mir. Ich habe jetzt keine Zeit, mich bei ihm zu entschuldigen. Gerade will ich an ihm vorbei, um weiter den Flur hinunter zu rennen, um mir ein Versteck zu suchen, als mich der Typ am Arm festhält. Bitte lass diesen Typen nicht auf der Seite meiner Verfolger stehen. Wütend wirble ich herum und sehe in sein Gesicht.
Sein Gesicht.
Es war… "Raven.", hauche ich seinen Namen.
"Val? Was ist los?"
Um die Ecke höre ich mehrere Schritte rasend schneller kommen. Anscheinend versteht Raven sofort, als er das hört und mein verängstigtes Gesicht sieht.
"Komm.", meint er nur und zieht mich mit sich in das nächste Zimmer. Leise schließt er hinter sich die Tür. "Das ist mein Zimmer. Wir sind sicher. Du bist sicher."
Meine Knie geben nach und ich lande auf dem Boden. Nach so langer Zeit kann ich nicht mehr stark sein. Tränen kullern meine Wangen hinunter. Und dann weine ich. Nach so langer Zeit.
Es herrscht Stille im Raum, außer meine immerwährenden Schluchzer. Nach kurzer Zeit setzt sich Raven vor mich auf den Boden und zieht mich in eine feste Umarmung. Ich erwidere seine Umarmung und drücke mich fest an seinen warmen Körper. Die Wärme, die von ihm ausgeht, und sein vertrauter Duft nach dem immergrünen Wald, der mich sofort an unser Königreich Bonaris erinnert, lassen mich noch stärker schluchzen. Zum ersten Mal seit meiner Gefangennahme erlaube ich es mir schwach zu sein. Ich lasse alles aus mir heraus. Alles was sich über die Jahre in mir aufgestaut hat und jeden Tag ein Stück größer wurde.
Jede Trauer und Grausamkeit. Ich trauerte wegen dem Tod meiner Eltern.
Um meinen Vater Erich, der uns Kinder so sehr liebte.
Um meine Mutter Dagmar, die immer alles für uns gegeben hat und immer für uns da war. Ich trauerte um meinen Bruder Jakob, der viel zu früh aus dem Leben gerissen worden ist.
Ich trauerte um meine kleine Schwester Ida, die nicht so aufwachsen konnte wie ich. Sie war erst 13 Jahre alt als sie uns mitnahmen.
Und ich trauerte um mich. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, in der ich gefangen war. Jeder Peitschenhieb, der auf meinem Rücken landete und eine brennende Narbe hinterließ, die mich für den Rest meines Lebens begleiten werden.
Jede Beleidigung, die ich zu hören bekommen habe und die sich in meine Seele brannten.
Alles krachte über mir zusammen und begrub mich vollkommen.
Raven streicht mir mit seiner Hand beruhigend über den Rücken. Mittlerweile sitze ich auf seinem Schoß und drücke mich fest an seine Brust. So vergehen viele Minuten, bis ich mich wieder beruhige und meine Schluchzer allmählich verstummen.
Ravens Kinn ruht auf meinem Kopf.
"Ich habe dich auch vermisst, Val.", flüstert er nach einiger Zeit und bricht somit das Schweigen. Schniefend vergrabe ich mein Gesicht weiter in seiner Halsbeuge und atme seinen Duft ein.
"Keine Sorge, du bist jetzt bei mir. Ich werde dich beschützen." Nach einem langen Atemzug löse ich mich etwas von ihm und sehe in sein vertrautes Gesicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich ihn wirklich an.
Seine Augen sind auf mich geheftet und mustern jeden Zentimeter meines Gesichtes. Der blaue wolkenlose Himmel trifft auf braun gesprenkelt frisch umgegrabene Erde, so lassen sich seine Augen beschreiben. Sein sonst sehr kurz gehaltener Haarschnitt ist jetzt länger geworden. Seine karamellbraunen Haare sind nur noch an den Seiten sehr kurz, ansonsten wellen sich die Haare unordentlich in alle Richtungen. Seine Wangenknochen sind markanter geworden, insgesamt wirkt sein Gesicht ernster. Seine Gesichtszüge sind härter geworden. Die sonst so unzähligen Sommersprossen auf seiner Nase sind fast verblasst und viel weniger geworden. Das einzige komplett neue in seinem Gesicht ist die Narbe, die auf seiner rechten Gesichtsseite von seiner Augenbraue bis zur Wange reicht.
"Ich bin so froh dich zu sehen.", die Worte kommen zittrig aus meinem Mund.
"Ich auch Val. Ich auch."
Sanft streicht seine Hand eine meiner gelockten Haarsträhne hinter mein Ohr.
"Ich dachte, du wärst tot.", sage ich leise und meine Stimme versagt dabei fast.
"Offensichtlich bin ich das nicht, wie du siehst."
"Aber wie? Wie bist du entkommen? Warum bist du hier? Wo warst du die ganze Zeit über?"
Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus.
Ein leichtes Lächeln zeichnet sich in seinem Gesicht ab, fast so wie früher.
"Wie ich sehe hat sich an deiner Neugier nichts geändert. Aber alles mit der Ruhe. Ich kann dir alles bis aufs kleinste Detail erzählen, wenn du willst. Aber als erstes lass und mal hier aufstehen. Mein linkes Bein ist schon seit 5 Minuten eingeschlafen und es kribbelt schon furchtbar."