Luan erreichte das Lager in den frühen Morgenstunden. Der Wald um ihn herum war still, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm. Die Bilder aus der Höhle – die Wölfe, das Blut, das Amulett – brannten sich in seinen Geist, und er spürte, dass etwas Großes bevorstand. Kael war der Erste, der ihn bemerkte. Er trat aus den Schatten und musterte Luan mit prüfendem Blick. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Luan hielt inne und holte tief Luft. »Ich weiß, wonach Ridley sucht.«
Kael zog die Augenbrauen hoch. »Dann erzähl es Nina. Und zwar schnell.« Das Rudel versammelte sich in der Mitte des Lagers, ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus Neugier und Sorge. Nina stand vor ihnen, ihre Haltung wie immer aufrecht, doch ihre Augen funkelten vor Ungeduld.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte sie und verschränkte die Arme. Luan trat vor, das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Ridley sucht ein Amulett. Ich habe es in der Höhle gesehen – es ist alt, voller Runen. Und ich glaube, es hat mit uns zu tun.«
Die Wölfe begannen leise zu murmeln, doch Nina hob die Hand, und die Stille kehrte zurück.
»Das Amulett«, sagte sie langsam, und in ihrer Stimme lag etwas, das Luan nicht einordnen konnte. »Es gibt eine alte Legende darüber. Aber niemand wusste, ob es wirklich existiert.«
Kael trat vor. »Was sagt die Legende?« Nina blickte ihn an, dann das Rudel. »Es heißt, das Amulett wurde von den ersten Wölfen geschaffen. Es trägt die Kraft unseres Ursprungs – das Gleichgewicht zwischen Mensch und Tier. Wer es besitzt, kann dieses Gleichgewicht kontrollieren.«
»Kontrollieren?«, fragte Luan. Nina nickte. »Es kann die Verbindung zwischen Mensch und Wolf stärken – oder sie zerstören. In den falschen Händen könnte es unser Ende bedeuten.«
Die Worte ließen eine eisige Stille über das Lager fallen. Luan spürte, wie sich eine Schlinge um seine Brust zog.
»Deshalb will Ridley es«, sagte Kael schließlich. »Er will die Macht des Amuletts nutzen, um uns zu vernichten.«
Nina nickte, doch ihre Augen blieben auf Luan gerichtet. »Und du hast es gesehen? In der Höhle?« Luan nickte. »Nicht das echte Amulett, aber eine Vision davon. Ridley hatte es in der Hand.« Kael runzelte die Stirn. »Wenn es nur eine Vision war, heißt das, dass Ridley es noch nicht hat.« Nina schwieg einen Moment, ihre Gedanken schienen zu rasen. Schließlich sah sie das Rudel an. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn Ridley dieses Amulett findet, sind wir verloren.« Das Rudel begann, Pläne zu schmieden. Wachen wurden verstärkt, Späher wurden ausgeschickt, um Hinweise auf Ridleys Aufenthaltsort zu finden. Luan fühlte sich wie ein Außenseiter, unfähig, etwas beizutragen, während die erfahrenen Wölfe die Verantwortung übernahmen. Kael legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Junge. Du hast uns den entscheidenden Hinweis gegeben. Jetzt liegt es an uns, damit zu arbeiten.« Doch Luan war nicht überzeugt. Das Ziehen in seiner Brust war stärker denn je, und der Wolf in ihm war unruhig. In der Nacht saß Luan allein am Rand des Lagers, sein Blick auf den dunklen Wald gerichtet. Die Worte aus der Höhle klangen immer noch in seinen Ohren, wie ein Flüstern, das nicht verstummen wollte.
»Das Amulett …«, murmelte er. »Es hat etwas mit mir zu tun.«
»Das hat es«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Luan drehte sich um und sah Nina, die ihn mit einem undurchdringlichen Blick ansah.
»Was meinst du?«, fragte er. Nina setzte sich neben ihn, ihre Augen auf den Mond gerichtet. »Du bist kein gewöhnlicher Wolf, Luan. Das haben wir dir schon gesagt. Dein Blut ist rein – und das macht dich zu etwas Besonderem.«
Luan schluckte schwer. »Besonders? Oder einfach nur eine Zielscheibe?« Nina lächelte schwach. »Beides. Du bist das Kind des Blutes, Luan. Die Legenden sprechen von dir – und von deiner Verbindung zum Amulett.«
»Meiner Verbindung?«, fragte Luan, sein Herz raste. Nina nickte. »Das Amulett wurde von einem Wolf getragen, der das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit bewahrte. Dieses Gleichgewicht liegt auch in dir. Und deshalb will Ridley dich – nicht nur das Amulett.«
Die Erkenntnis traf Luan wie ein Schlag. Alles, was passiert war – die Angriffe, die Visionen, die Verwandlungen – war Teil eines größeren Plans, den er noch nicht vollständig verstand.
»Was soll ich tun?«, fragte er leise. Nina legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du wirst lernen, wer du bist. Du wirst stark genug sein, um Ridley entgegenzutreten. Aber zuerst müssen wir das Amulett finden – bevor er es tut.«
Luan nickte, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass die Antworten nicht nur in der Jagd nach dem Amulett lagen. Sie lagen in ihm selbst – und in dem, was der Wolf ihm zu sagen versuchte.