Der Wald schien lebendig, pulsierend wie ein Wesen mit eigenem Willen. Das Flüstern der Blätter war fast wie eine Sprache, die Luan nicht verstand, aber tief in sich spürte. Kael stand vor ihm, breit und unerschütterlich, wie ein Teil dieses Waldes.
»Du willst Antworten, nicht wahr?«, fragte Kael, seine Stimme rau wie das Knirschen von Steinen. Luan wich einen Schritt zurück, sein Atem flach. »Ich will, dass das aufhört. Ich will, dass alles wieder normal ist.«
Kael schüttelte langsam den Kopf, seine Augen leuchteten in einem seltsamen Gelb. »Normal? Junge, normal war nie eine Option für dich. Du hast das in dir – es hat nur darauf gewartet, aufzuwachen.«
»Was bist du?«, fragte Luan, obwohl er die Antwort bereits ahnte. Kael trat einen Schritt näher, sein Gesicht halb im Schatten, halb im silbrigen Mondlicht. »Ich bin wie du, Luan. Ein Wolf. Ein Jäger. Und wenn du nicht lernst, was das bedeutet, wirst du selbst zur Beute.«
Luan wollte weglaufen, doch etwas hielt ihn zurück. Es war nicht Kael – es war das Ziehen in seiner Brust, das immer stärker wurde, je länger er in dessen Nähe blieb.
»Ich will das nicht«, sagte er schließlich, seine Stimme zitterte. »Ich will kein … Monster sein.«
Kael seufzte und ließ sich auf einen umgefallenen Baumstamm nieder. »Du denkst, es ist ein Fluch, nicht wahr? Alle denken das am Anfang. Aber das ist es nicht. Es ist ein Geschenk. Du bist schneller, stärker, schärfer. Deine Instinkte sind nicht dein Feind – sie sind deine Rettung.«
»Rettung?«, wiederholte Luan bitter. »Ich habe jemanden verletzt. In der Schule. Ich konnte nicht aufhören …«
Kael nickte, sein Blick ernst. »Weil du noch nicht gelernt hast, den Wolf zu kontrollieren. Und wenn du das nicht tust, wird er die Kontrolle über dich übernehmen.« Die Worte trafen Luan wie ein Schlag. Er dachte an Mason, an dessen blutiges Gesicht, an die Blicke seiner Mitschüler. Er dachte an das Knurren, das tief aus seiner eigenen Kehle gekommen war, an die Wut, die ihn völlig überwältigt hatte.
»Wie?«, fragte er leise. »Wie lernt man, das zu kontrollieren?«
Kael grinste, ein grimmiges, zähes Lächeln. »Das ist keine Frage des Lernens, Junge. Es ist eine Frage des Überlebens. Komm mit mir. Ich zeige dir, was du bist.« Luan wollte widersprechen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er wusste, dass Kael recht hatte. Was auch immer mit ihm geschah, er konnte es nicht allein bewältigen. Die beiden gingen tiefer in den Wald, der Mond über ihnen war wie ein leuchtendes Auge, das jede ihrer Bewegungen verfolgte. Der Boden war feucht, bedeckt mit Moos, das unter ihren Schritten nachgab.
»Was weißt du über Wölfe?«, fragte Kael plötzlich. Luan zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Sie leben in Rudeln, oder?«
Kael lachte leise. »Rudel sind wichtig. Aber Wölfe sind mehr als das. Sie sind Jäger. Sie sind Überlebende. Und sie verstehen das Gleichgewicht.«
»Gleichgewicht?«, fragte Luan und warf ihm einen skeptischen Blick zu. Kael nickte. »Zwischen Mensch und Tier. Zwischen Freiheit und Kontrolle. Zwischen Licht und Dunkelheit. Jeder von uns trägt beides in sich. Aber bei dir ist das Gleichgewicht gestört. Der Wolf in dir ist zu stark, weil du ihn verdrängst.«
Sie erreichten eine kleine Lichtung, die von alten, verkrüppelten Bäumen umgeben war. In der Mitte stand ein großer, flacher Stein, auf dem das Licht des Mondes glänzte. Kael deutete auf den Stein. »Setz dich.« Luan zögerte, doch das Ziehen in seiner Brust ließ ihm keine Wahl. Er ließ sich auf den kalten Stein sinken, während Kael vor ihm stehen blieb.
»Schließ die Augen«, sagte Kael, und seine Stimme war plötzlich sanfter. »Atme. Hör auf den Wald. Hör auf dich selbst.«
Luan gehorchte widerwillig. Er atmete tief ein, spürte die kühle Nachtluft in seinen Lungen, hörte das ferne Knacken von Ästen, das Rascheln der Blätter. Und dann spürte er es wieder – das Knurren, das Beben, das Ziehen.
Kaels Stimme kam wie ein Flüstern. »Spürst du ihn? Den Wolf?« Luan nickte, seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ja. Aber es fühlt sich … falsch an.«
»Weil du ihn bekämpfst«, sagte Kael. »Hör auf zu kämpfen. Akzeptiere ihn. Er ist ein Teil von dir, ob du es willst oder nicht.«
Luan wollte schreien, wollte sich wehren, doch er wusste, dass Kael recht hatte. Also ließ er los. Er ließ die Angst los, die Wut, die Verzweiflung – und er spürte, wie der Wolf in ihm aufstieg. Seine Sinne wurden schärfer, seine Haut kribbelte, als ob sie zu eng war. Er konnte Kaels Herzschlag hören, das Summen von Insekten, die Bewegung eines Rehs am anderen Ende der Lichtung. Der Wolf war da.
Kael legte eine Hand auf seine Schulter. »Jetzt, Junge. Öffne die Augen.« Luan tat es und sah, dass die Welt anders war. Sie war heller, klarer, lebendiger. Die Farben waren intensiver, die Schatten tiefer. Kael lächelte. »Das bist du. Der Wolf und der Mensch, vereint. Aber das ist nur der Anfang. Du musst lernen, ihn zu kontrollieren. Sonst wird er dich kontrollieren.« Luan atmete schwer, das Knurren in seiner Brust war leise geworden, aber nicht verschwunden. Er wusste, dass Kael recht hatte.
»Wann fangen wir an?«, fragte er schließlich.
Kaels Lächeln wurde breiter. »Wir haben bereits angefangen.«