Luan wachte in einer Welt aus Schmerz auf. Alles war verschwommen – Stimmen, Bewegungen, das Dröhnen seines eigenen Herzschlags, das wie ein dumpfer Hammer durch seinen Kopf schlug. Der Schmerz in seiner Seite war wie ein brennendes Feuer, das sich durch seinen Körper fraß. Er blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Er war nicht mehr im Wald. Über ihm hingen grobe Holzbalken, und eine schwache, flackernde Lichtquelle erhellte den Raum. Es roch nach Rauch und feuchtem Holz – und nach Blut.
»Er ist wach«, sagte eine raue Stimme. Luan drehte den Kopf und sah Kael, der mit verschränkten Armen neben ihm saß. Seine Stirn war von Dreck und Blut bedeckt, und in seinen gelben Augen lag eine Mischung aus Sorge und Zorn.
»Du bist ein verdammter Idiot«, sagte Kael leise, aber seine Stimme war ein Schneiden.
Luan wollte etwas sagen, doch seine Kehle war trocken. Stattdessen hob er die Hand, um den Schmerz in seiner Seite zu ertasten.
»Lass das«, warnte Kael und drückte seine Hand zurück. »Das Messer war aus Silber. Du hast Glück, dass es dich nicht tiefer getroffen hat. Sonst würdest du jetzt nicht mehr hier liegen.«
Luan schloss die Augen, die Erinnerung an die Lichtung und Ridleys Messer kam zurück. »Der Junge … der Wolf … ist er …?« Kael seufzte. »Er lebt. Aber er hat dich fast mitgenommen. Wir haben dich gerade noch rausgeholt, bevor sie dich fertiggemacht hätten.« Die Tür öffnete sich, und eine Frau trat ein. Sie war klein, doch ihre Präsenz füllte den Raum, als ob sie größer wäre. Ihr Haar war silbrig-grau, ihre Augen funkelten wie die eines Raubtiers.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte sie und verschränkte die Arme. Kael stand auf. »Nina, lass ihn. Er hat genug durchgemacht.«
Nina ignorierte ihn und beugte sich über Luan. »Du bist ein Welpe, ein Frischling, der nichts von unserer Welt versteht. Und doch stürzt du dich in einen Kampf, der nicht deiner ist? Weißt du, was das für uns bedeutet hätte, wenn sie dich gefangen hätten?« Luan öffnete den Mund, doch keine Worte kamen heraus. Er konnte nur ihren Blick ertragen, der ihn durchbohrte wie eine Klinge.
»Lass ihn atmen«, knurrte Kael schließlich und stellte sich zwischen sie. »Er hat einen Fehler gemacht, ja. Aber er lebt. Und das bedeutet, wir haben noch Zeit, ihm beizubringen, was er wissen muss.«
Nina zog die Augenbrauen hoch, ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. »Zeit ist etwas, das wir nicht haben, Kael. Nicht mit Ridley im Wald.« Kael sagte nichts, und das Schweigen hing schwer im Raum. Schließlich drehte Nina sich um und ging zur Tür. »Er hat bis zum nächsten Vollmond. Wenn er dann nicht bereit ist, wird er uns alle gefährden.« Die Tür fiel hinter ihr zu, und Kael ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.
»Wer ist sie?«, fragte Luan schließlich, seine Stimme heiser.
»Nina ist unser Alpha«, sagte Kael und sah ihn an. »Sie führt das Rudel. Und sie hat recht – Ridley wird zurückkommen. Und wenn er das tut, musst du bereit sein.«
»Bereit wofür?«, fragte Luan. Kael lehnte sich vor, seine Augen leuchteten. »Für den Wolf. Du hast ihn gespürt, oder? In deinem Inneren. Er ist da, Luan. Und du kannst ihn nicht länger ignorieren.«
Die nächsten Tage waren wie ein Nebel aus Schmerzen und Anstrengung. Kael zwang Luan, zu trainieren, ihn durch die Wälder zu jagen, seine Sinne zu schärfen, die animalische Kraft zu akzeptieren, die in ihm schlummerte. Doch Luan spürte immer die Grenze, die er nicht überschreiten konnte. Der Wolf in ihm war da, knurrend, drängend, aber er war gefesselt – von Angst, von Unsicherheit, von der Frage, was es bedeutete, ihn loszulassen. Dann kam der Vollmond. Luan wachte mit einem seltsamen Gefühl auf. Seine Haut kribbelte, sein Atem ging schneller, und sein Herz schlug in einem Rhythmus, der nicht mehr sein eigener war. Der Mond hing hoch am Himmel, und sein silbernes Licht schien durch das kleine Fenster des Raumes, in dem er schlief. Kael stand in der Tür, seine Augen glühten im Licht. »Es ist Zeit.« Luan folgte ihm nach draußen, wo das Rudel bereits wartete. Sie standen in einem Kreis, ihre Gesichter von Schatten und Mondlicht gezeichnet. Nina war in der Mitte, ihre Haltung war stolz und selbstbewusst.
»Dies ist deine erste Nacht«, sagte sie, ihre Stimme war ruhig, aber hart. »Der Mond ruft uns, und der Wolf in dir wird erwachen. Du kannst ihn nicht länger zurückhalten.«
Luan wollte etwas sagen, doch bevor er konnte, spürte er es. Ein Zittern lief durch seinen Körper, und der Schmerz begann – tiefer, intensiver als alles, was er je erlebt hatte. Es war, als ob seine Knochen sich verformten, seine Haut brannte, und sein Herz zerrissen wurde. Er fiel auf die Knie, seine Finger krallten sich in den Boden. Das Knurren in seiner Brust wurde lauter, roher, und dann war es da: der Wolf. Seine Sinne explodierten. Der Wald war heller, lebendiger, die Luft war ein Meer aus Gerüchen. Er konnte das Blut seiner Rudelmitglieder hören, das durch ihre Adern floss, konnte das Rascheln der Mäuse unter dem Laub spüren.
Luan hob den Kopf und spürte, wie sich die Welt veränderte. Der Wolf war frei, und für einen Moment gab es keine Angst, keinen Schmerz, keine Unsicherheit. Da war nur das Heulen. Sein Heulen. Das Rudel stimmte ein, und die Nacht wurde vom Klang ihrer Stimmen erfüllt. Luan wusste, dass er sich verändert hatte – und dass es kein Zurück mehr gab.