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Chapter 8 - Das Erbe der Wölfe

Der Morgen nach seiner ersten Verwandlung war still. Luan saß am Rand der Lichtung, die Knie an die Brust gezogen, während die Sonne langsam durch die Baumkronen stieg. Sein Körper fühlte sich fremd an, als ob er nicht ganz zu ihm gehörte. Jeder Muskel schmerzte, und seine Haut war empfindlich, als ob sie zu dünn war. Kael trat aus den Schatten, eine Tasse dampfenden Tee in der Hand. Er setzte sich neben Luan, reichte ihm die Tasse und ließ ihn einen Moment schweigen.

»Es wird leichter«, sagte Kael schließlich, ohne ihn anzusehen. Luan nahm einen Schluck von dem bitteren Getränk und verzog das Gesicht. »Es fühlt sich nicht so an. Es fühlt sich an, als ob ich … nicht ich bin.«

Kael lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. »Das bist du. Du bist der Wolf. Du bist der Mensch. Beide gehören zu dir, Luan. Du musst nur lernen, sie in Einklang zu bringen.« Später am Tag versammelte Nina das Rudel auf der Lichtung. Ihre Haltung war wie immer aufrecht und autoritär, ihre silbrigen Haare leuchteten im Sonnenlicht.

»Luan«, sagte sie und deutete ihm, näherzutreten. Er zögerte, doch Kael gab ihm einen leichten Stoß in den Rücken. »Geh«, flüsterte er. Luan trat in den Kreis, spürte die Blicke der anderen Wölfe auf sich. Einige wirkten interessiert, andere misstrauisch.

»Du hast die erste Schwelle überschritten«, sagte Nina, ihre Stimme klang fast feierlich. »Aber das macht dich noch nicht zu einem Teil dieses Rudels. Es gibt Dinge, die du wissen musst, bevor du diese Welt wirklich verstehst.«

Nina trat vor und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Augen waren durchdringend. »Kennst du die Geschichte unserer Art, Luan?« Luan schüttelte den Kopf. »Nur, was Kael mir erzählt hat.«

»Dann ist es Zeit, dass du das Erbe der Wölfe verstehst«, sagte Nina. Sie drehte sich zu den anderen. »Kommt, es ist wichtig, dass er das hört.«

Das Rudel setzte sich in einem lockeren Kreis, während Nina begann zu sprechen.

»Wir sind nicht nur Raubtiere. Wir sind mehr als das, was die Menschen in ihren Märchen über uns erzählen. Vor langer Zeit, bevor es Städte gab, lebten wir Seite an Seite mit den Menschen. Wir waren ihre Verbündeten, ihre Beschützer. Doch wie alle Dinge wurde das Gleichgewicht gestört.«

Luan hörte zu, während Nina sprach. Sie erzählte von alten Bündnissen zwischen Wölfen und Menschen, von Zeiten, in denen die beiden Völker in Harmonie lebten. Doch die Menschen hatten begonnen, die Wölfe zu fürchten. Ihre Stärke, ihre Instinkte, ihre Verbindung zur Wildnis wurden nicht mehr als Geschenk, sondern als Bedrohung gesehen.

»Sie jagten uns«, sagte Nina, ihre Stimme ruhig, aber fest. »Sie nannten uns Monster und vergaßen, dass wir einst ihre Verbündeten waren. Und so wurden wir zu dem, was sie in uns sahen.«

»Und die Jäger?«, fragte Luan leise. Kael antwortete. »Die Jäger entstanden aus dieser Angst. Ihre Aufgabe war es, uns zu vernichten. Sie sind organisiert, gut ausgebildet – und sie hören niemals auf.«

Luan dachte an Ridley, an dessen kalte Augen und das silberne Messer, das seinen Körper verbrannt hatte. »Aber warum jetzt? Warum sind sie hier?«

Nina seufzte. »Weil du hier bist.« Luan blinzelte. »Ich?« Kael nickte. »Du bist nicht nur irgendein Wolf, Luan. Du bist besonders. Dein Blut ist rein – reiner als das der meisten von uns. Das macht dich stärker, schneller, aber es macht dich auch zu einem Ziel.« Luan spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Warum ich? Was bedeutet das?« Nina trat näher, ihre Augen kalt und berechnend. »Es gibt eine alte Prophezeiung in unserer Art. Sie spricht von einem Wolf, einem ‚Kind des Blutes', das das Gleichgewicht zwischen Mensch und Wolf wiederherstellen kann. Die Jäger wissen das. Und sie fürchten dich.« Luan ließ sich auf die Knie sinken, das Gewicht ihrer Worte drückte schwer auf seine Schultern. »Ich bin nur ein Junge«, sagte er leise. »Wie soll ich irgendetwas wiederherstellen?« Kael legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du bist mehr als ein Junge, Luan. Aber du musst deine Kraft annehmen. Du musst lernen, den Wolf in dir zu kontrollieren, denn wenn du es nicht tust, werden die Jäger dich finden – und töten.«

»Und wenn ich es tue?«, fragte Luan, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Nina lächelte leicht, doch es war kein freundliches Lächeln. »Wenn du es tust, wirst du der Schlüssel sein. Du wirst entscheiden, ob unsere Art überlebt – oder für immer ausgelöscht wird.«

In der Nacht lag Luan wach in seinem Lager, das Mondlicht fiel durch die Bäume und ließ die Schatten tanzen. Die Worte von Nina und Kael hallten in seinem Kopf wider, während er die Geräusche des Waldes um sich herum hörte. Er spürte das Ziehen in seiner Brust, das Knurren, das niemals ganz verschwand. Der Wolf war da, immer, lauernd, wartend. Und Luan wusste, dass er keine Wahl hatte.

Er würde lernen müssen, was es bedeutete, ein Wolf zu sein. Denn das Erbe der Wölfe lag jetzt auf seinen Schultern – ob er es wollte oder nicht.