Chapter 5 - Das Rudel

Die Nächte im Wald waren anders geworden. Luan spürte es mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt. Der Wald war nicht länger nur eine Ansammlung von Bäumen und Schatten – er lebte. Es war, als hätte sich der Boden unter seinen Füßen mit einem Puls gefüllt, der seinen eigenen spiegelte. Kael hatte ihn nicht zurück nach Hause geschickt. »Zu Hause ist nicht sicher«, hatte er gesagt. »Nicht für dich und nicht für die Menschen um dich herum.«

Also blieb Luan. Er folgte Kael durch das Labyrinth aus Bäumen und Schluchten, immer tiefer in den Wald, bis selbst das letzte Echo des Dorfes verschwunden war.

»Wohin gehen wir?«, fragte er schließlich. Kael blieb stehen, sein Blick ruhte auf einem Punkt in der Ferne. »Zum Rudel. Zu denen, die dich verstehen werden.«

Die Reise dauerte Stunden, vielleicht länger. Luan verlor das Zeitgefühl, je tiefer sie in den Wald vordrangen. Schließlich erreichten sie einen Hang, an dessen Spitze ein alter Steinbogen stand, überwuchert von Moos und Efeu. Kael drehte sich zu ihm um. »Das ist die Grenze.«

»Die Grenze?«, wiederholte Luan. Kael nickte. »Hinter diesem Bogen ist ihr Territorium. Du bist ein Fremder – sie werden dich prüfen. Und sie werden dich nicht freundlich willkommen heißen, wenn du dich schwach zeigst.« Luan schluckte schwer, doch er nickte. Er wusste, dass er keine Wahl hatte.

Kael führte ihn durch den Bogen, und Luan spürte sofort die Veränderung. Die Luft war dichter, die Geräusche leiser, als ob der Wald selbst den Atem anhielt.

»Du spürst es, nicht wahr?«, fragte Kael, ohne ihn anzusehen. »Das ist das Rudel. Sie beobachten uns. Sie beobachten dich.«

Luan sah sich um, doch er konnte nichts erkennen – keine Bewegung, keine Gestalten, nur den endlosen Wald. Doch er fühlte die Augen auf sich, das unaufhörliche Gewicht von Blicken, die aus dem Schatten kamen.

Ein tiefes Knurren ließ ihn erstarren. Plötzlich tauchten sie aus den Bäumen auf. Drei Gestalten, groß und breitschultrig, bewegten sich lautlos wie Raubtiere. Ihre Augen glühten in einem unheimlichen Gelb, ihre Bewegungen waren geschmeidig, aber angespannt. Der größte von ihnen, ein Mann mit einem vernarbten Gesicht und einer Präsenz, die Luan fast zum Rückzug zwang, trat vor.

»Kael«, sagte er mit einer Stimme, die wie ein tiefes Brummen klang. »Was bringst du uns da?«

»Einen von uns«, antwortete Kael ruhig. »Er braucht das Rudel.«

Der Mann musterte Luan, und seine Augen schienen direkt in ihn hineinzusehen. »Er riecht wie einer von uns. Aber er sieht schwach aus.« Luan wollte etwas sagen, wollte widersprechen, doch seine Kehle war trocken.

»Das werden wir sehen«, sagte der Mann schließlich. Sie wurden zu einem Lager gebracht, das in einer kleinen Senke lag, umgeben von Felsen, die wie eine natürliche Barriere wirkten. Ein großes Feuer brannte in der Mitte, und um es herum saßen weitere Gestalten – Männer, Frauen, ein paar Jugendliche. Alle Augen richteten sich auf Luan, als er und Kael das Lager betraten. Er spürte die Spannung, das Misstrauen, das von jedem Blick ausging. Kael hielt an und sah ihn an. »Das ist dein Moment, Junge. Zeig ihnen, dass du dazugehörst.«

Bevor Luan antworten konnte, trat der Mann mit den Narben wieder vor.

»Du bist neu«, sagte er. »Und in unserem Rudel verdient man sich seinen Platz.«

»Wie?«, fragte Luan leise. Der Mann lächelte grimmig. »Indem du zeigst, dass du das Zeug dazu hast.«

Kael trat zur Seite, und Luan fühlte sich plötzlich allein. Der Mann bedeutete ihm, näher ans Feuer zu kommen.

»Du wirst kämpfen«, sagte er. Luan spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Was? Mit wem?«

Der Mann grinste, und in seinen Augen blitzte etwas Raubtierhaftes auf. »Mit mir.« Die anderen begannen zu murmeln, einige lachten leise, doch niemand schien überrascht zu sein.

»Du willst das Rudel?«, sagte der Mann und trat näher. »Dann zeig mir, dass du das Zeug dazu hast. Zeig mir, dass du der Wolf bist, der du vorgibst zu sein.«

Kael stellte sich an den Rand des Kreises und beobachtete still. Luan sah ihn an, suchte nach einem Zeichen, doch Kael sagte nichts.

»Bereit?«, fragte der Mann, und seine Stimme war wie ein Knurren.

»Ich … ich bin nicht wie ihr«, stammelte Luan. Der Mann lachte, ein tiefes, kehliges Geräusch. »Doch, das bist du. Du weißt es nur noch nicht.« Und dann griff er an. Es ging schnell. Zu schnell. Der Mann stürzte sich auf Luan mit einer Geschwindigkeit, die menschlich unmöglich war. Luan wich zurück, doch er war zu langsam, und die Faust des Mannes traf ihn hart in die Seite. Der Schmerz war wie ein Feuer, das sich durch seinen Körper fraß. Er fiel zu Boden, keuchte und versuchte, aufzustehen, doch der Mann war schon wieder da.

»Steh auf«, knurrte er. »Oder willst du sterben wie ein Hund?«

Etwas in diesen Worten ließ Luan aufschrecken. Er spürte es wieder – das Ziehen, das Beben, das Knurren tief in seiner Brust. Es war der Wolf, und diesmal ließ Luan ihn nicht zurückhalten. Er sprang auf, seine Bewegungen schneller, geschmeidiger. Der Mann stürzte erneut auf ihn zu, doch diesmal wich Luan aus, seine Sinne waren schärfer, seine Reflexe unnatürlich schnell. Die beiden umkreisten sich, und Luan spürte das Adrenalin in seinen Adern. Der Mann griff wieder an, doch Luan packte seinen Arm und schleuderte ihn zu Boden. Für einen Moment herrschte Stille im Lager. Der Mann lachte leise und rappelte sich auf. »Da ist er. Der Wolf.« Die anderen stimmten ein, ein tiefes, raues Lachen, das in ein gemeinsames Heulen überging. Kael trat vor und legte Luan eine Hand auf die Schulter. »Willkommen im Rudel, Junge.«