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Chapter 2 - Das Erwachen

Das erste, was Luan spürte, als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war der Schmerz in seinen Händen. Er zog sie unter der Decke hervor und drehte sie hin und her. Die Haut war gerötet, die Nägel kurz und stumpf, aber die Erinnerungen an die Nacht ließen ihn nicht los. Es war ein Traum gewesen, oder? Das war es immer. Albträume, die ihm den Schlaf raubten, so lebendig, dass er selbst nach dem Aufwachen nicht sicher war, wo der Traum endete und die Wirklichkeit begann. Doch die Erde, die in seinen Fingernägeln steckte, sagte ihm etwas anderes. Die Küche roch nach kaltem Kaffee und abgestandenem Bier, wie immer, wenn sein Vater spät nach Hause kam. Die Flasche auf dem Tisch war leer, die Kippe im Aschenbecher halb geraucht. Luan ignorierte das Chaos und suchte sich ein Stück Brot, aber sein Magen rebellierte schon bei dem Gedanken ans Essen. Er fühlte sich merkwürdig – wie ein Instrument, dessen Saiten zu fest gespannt waren.

Seine Ohren zuckten bei jedem kleinen Geräusch, die knarrenden Dielen, das Summen des Kühlschranks, das Kratzen eines Zweigs am Fenster. Er schob das Brot weg, zog seine Jacke an und ging nach draußen. Der Wald hinter ihrem Haus lag still, doch irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Luft war dick, feucht und schwer, wie vor einem Gewitter, doch der Himmel war klar. Luan schob die Hände in die Taschen und ging in Richtung der Lichtung, die er normalerweise mied. Es war ein merkwürdiger Ort, der immer zu still war, selbst am Tag. Vögel flogen über ihn hinweg, aber sie landeten nie dort. Er wusste nicht, warum er dorthin ging. Aber seine Füße trugen ihn, als hätte jemand eine unsichtbare Leine an ihm befestigt. Die Lichtung lag verlassen da, doch der Boden war aufgewühlt. Grasbüschel waren ausgerissen, der Dreck roch feucht und frisch, als hätte jemand gegraben. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und Luan dachte daran, umzukehren. Doch dann sah er es. Kratzspuren. Sie waren tief und unregelmäßig, als hätte ein Tier mit Klauen versucht, etwas aus dem Boden zu holen. Luan kniete sich hin und legte vorsichtig die Finger in die Spuren. Seine Hände passten hinein. Er riss sie zurück, als hätte der Boden ihn gebissen, und stolperte rückwärts. Sein Atem wurde flach, und die Erinnerung an die Nacht kam zurück. Das Heulen. Der Schmerz. Die Krallen.

»Was ist hier los?«, flüsterte er und schüttelte den Kopf, als könne er die Gedanken aus seinem Gehirn schleudern. Doch bevor er weiter nachdenken konnte, hörte er ein Knacken hinter sich. Luan drehte sich um, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Ein Mann stand am Rand der Lichtung. Er war groß, breitschultrig und trug einen abgewetzten Mantel, der aussah, als hätte er bessere Tage gesehen. Sein Gesicht war von einem dichten Bart bedeckt, seine Augen leuchteten in einem unheimlichen Gelb.

»Was machst du hier, Junge?«, fragte der Mann, und seine Stimme war rau, wie das Knistern eines Lagerfeuers. Luan wich einen Schritt zurück. »Nichts. Ich … ich wollte nur spazieren gehen.« Der Mann lächelte, und seine Zähne waren zu spitz, zu scharf. »Das glaube ich nicht. Du hast Fragen, nicht wahr? Über das, was du bist?« Luan schluckte schwer. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Der Mann trat näher, und Luan spürte, wie die Luft um ihn kälter wurde. »Oh, du weißt es ganz genau. Es ist in dir, nicht wahr? Der Wolf. Er hat dich letzte Nacht gerufen.« Luan wollte schreien, wollte weglaufen, doch er konnte sich nicht bewegen.

»Wer sind Sie?«, fragte er, und seine Stimme klang kleiner, als er erwartet hatte. Der Mann blieb stehen, nur ein paar Schritte von ihm entfernt. »Mein Name ist Kael. Und ich bin wie du. Ein Wolf.«

Die Worte hingen in der Luft, und Luan konnte nicht anders, als zu lachen. Es war ein nervöses, gebrochenes Geräusch, das aus ihm herausbrach, bevor er es zurückhalten konnte.

»Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin kein … kein Monster.«

Kael legte den Kopf schief, und für einen Moment war da etwas Tierisches in seinen Bewegungen, etwas, das nicht menschlich war. »Ein Monster? Nein. Du bist kein Monster. Aber du bist auch kein Mensch. Nicht mehr.« Kael streckte die Hand aus, und Luan spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er wollte weglaufen, wollte schreien, doch stattdessen stand er nur da, während der Mann ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Du fühlst es, nicht wahr? Das Ziehen. Den Hunger. Es ist nur der Anfang.«

Luan schüttelte den Kopf, Tränen brannten in seinen Augen. »Ich will das nicht. Ich will normal sein.« Kael seufzte, und in seinem Blick lag etwas, das wie Mitleid aussah. »Niemand von uns hat es sich ausgesucht, Junge. Aber du kannst es nicht ignorieren. Der Wolf ist wach. Und wenn du nicht lernst, ihn zu kontrollieren, wird er dich kontrollieren.« Die Worte drangen in Luans Kopf wie ein Echo, und für einen Moment konnte er nichts sagen. Dann, ohne Vorwarnung, drehte er sich um und rannte.

Kael rief ihm nach, doch Luan hörte nicht hin. Seine Beine trugen ihn durch den Wald, seine Lungen brannten, und das Heulen eines Wolfs folgte ihm wie ein Schatten. Er wusste nicht, wohin er lief, aber eines wusste er: Etwas hatte sich verändert. Und es gab kein Zurück.