Vor der Krankenstation herrscht eine angespannte Stille, nur gelegentlich unterbrochen von gedämpften Geräuschen aus dem Inneren – Schritte von Krankenschwestern, das leise Piepen medizinischer Geräte.
Draußen steht ein hochgewachsener Mann, stramm in seiner perfekt sitzenden Militäruniform, die jeden Knopf und jede Kante makellos zeigt.
Seine Haltung ist tadellos, seine Präsenz einschüchternd. General Marcus Veylith, bekannt für seine kompromisslose Disziplin und seinen eisernen Willen, spricht mit einem deutlich kleineren Unteroffizier.
Der Unteroffizier, ein blasser, schmächtiger Mann mit zittrigen Händen, ringt sichtbar mit seiner Nervosität. Seine Stimme bebt leicht während er spricht.
"Sir Veylith, wir setzen wirklich alles daran, den Täter zu finden, selbst wenn wir das ganze Land auf den Kopf stellen müssen. Das schwöre ich auf mein Leben."
Veyliths Blick ist schneidend. Seine eisblauen Augen durchbohren den Unteroffizier, als wollte er dessen Entschlossenheit auf die Probe stellen.
Dann nickt er knapp, doch seine Stimme bleibt kalt und scharf wie ein Schwert.
"Tun Sie, was nötig ist."
Der Unteroffizier schluckt schwer und strafft sich hastig, als wolle er seine Angst überspielen.
Seine Beine zittern kaum merklich, doch Veylith bemerkt es.
Der General richtet seinen Blick auf den Eingang der Krankenstation, wo das sanfte, sterile Licht den düsteren Gang dahinter beleuchtet.
"Man kann nur von Glück sprechen, dass meiner Tochter nichts passiert ist," sagt Veylith schließlich, seine Stimme nun leise, als würde er mehr zu sich selbst sprechen.
Dann dreht er sich langsam zurück zum Unteroffizier, der bei jedem seiner Worte noch kleiner zu werden scheint.
"Ich möchte sofort mit dem Leiter dieser Kaserne sprechen. Die Sicherheitsstandards müssen dringend überarbeitet werden. Es darf nicht sein, dass ein Monster, ein Attentäter oder – was auch immer – in eines unserer Militär- oder Regierungsgebäude eindringen kann."
Der Unteroffizier wagt einen Schritt nach hinten, sein Blick flackert nervös, bevor er zaghaft einwirft:
"Sir Kael erholt sich noch in seinem Zimmer. Vielleicht wäre es besser, wenn wir—"
"Holen Sie ihn unverzüglich in mein Büro." Veyliths Stimme schneidet wie ein Befehl durch die Luft, seine Haltung ist unerschütterlich.
Er macht klar, dass es keinen Raum für Diskussion gibt.
Der Unteroffizier spannt sich an, seine Hand zuckt unwillkürlich zu einem Salut, obwohl die Geste nicht verlangt wurde.
Er nickt hastig.
"Jawohl, Sir," murmelt er, bevor er sich eilig abwendet und fast in einen der vorbeigehenden Soldaten rennt.
Während er sich beeilt, Veyliths Befehl auszuführen, murmelt er leise, fast unhörbar für sich selbst: "Dabei ist das doch eigentlich mein Büro…"
***
Serens Augen öffnen sich langsam, die Lider schwer wie Blei.
Ein blendendes, steriles Weiß umfängt sie, und sie blinzelt, um den Raum scharf zu stellen. Es dauert einen Moment, bis sie realisiert, dass sie sich in der Krankenstation der Kaserne befindet.
Der Geruch von Desinfektionsmittel liegt unangenehm in der Luft.
Sie versucht, sich aufzurichten, doch jeder Muskel in ihrem Körper fühlt sich erschöpft an, als würde sie unter einer unsichtbaren Last stehen.
Trotz der Schwäche spürt sie keine Verletzungen.
Ein Bildschirm an der Wand flackert, und ein automatisierter, emotionsloser Ton ertönt:
"Ihre Essenz ist erschöpft. Sie benötigen weitere 24 Stunden Bettruhe. Bewegung wird nicht empfohlen."
Seren ignoriert die Worte. Sie hat keine Zeit, sich zu schonen.
Mit zusammengebissenen Zähnen schwingt sie die Beine über die Bettkante, der kalte Boden berührt ihre nackten Füße.
Ein kurzer Schwindel erfasst sie, doch sie zwingt sich aufzustehen. Ihre Schritte sind wackelig, aber entschlossen, als sie den sterilen Raum verlässt und in den Flur tritt.
Erinnerungen vom vorherigen Tag benebeln ihren Kopf.
Der Angriff ... nein die Exekution von Lumen lässt Seren Fassungslos.
Während sie nachdenklich durch die Flur geht, begegnet sie einer Krankenschwester, die sie überrascht ansieht.
"Seren Veylith?" fragt die Frau, ihre Stimme warm, aber vorsichtig.
"Sie sollten wirklich noch im Bett liegen. Aber... Ihr Vater ist hier. Er wartet in der Nähe des Büros."
Die Erwähnung ihres Vaters lässt Seren innehalten. Eine Flut von Emotionen steigt in ihr auf – Ärger, Unsicherheit, ein Hauch von Angst.
Sie fühlt sich hin- und hergerissen. Soll sie mit ihm sprechen?
In ihrer Kindheit war er ein unnachgiebiger Lehrer, ein Mann, der immer Stärke forderte, der sie lehrte, dass die Welt ein harter Ort sei, in dem Schwäche keinen Platz hat.
Aber es war mehr als das. Sie erinnert sich noch lebhaft daran, wie er sie mit 16 Jahren in einen Essenzsturm geschleppt hat, um ihr Erwachen zu erzwingen.
***
Der Essenzsturm tobte wie eine entfesselte Naturgewalt. Blitze aus reiner Energie zuckten durch die Luft, und das Dröhnen der schreienden Essenz war ohrenbetäubend.
Die Shopping-Mall, in der sie sich befanden, war nur noch ein Schatten ihrer ursprünglichen Form – zerbrochene Glasfenster, zerfetzte Werbebanner, Regale, die von einer unsichtbaren Kraft durch die Gegend geschleudert worden waren.
Seren weinte, Tränen liefen ungehindert über ihr Gesicht. Sie versuchte, sich von ihrem Vater loszureißen, doch sein Griff war wie Eisen, unnachgiebig.
Er zog sie immer weiter in Richtung des Epizentrums, wo die Essenz am wildesten tobte.
"Du schaffst das, Seren!" rief er gegen den Sturm an, seine Stimme fest, aber nicht ohne einen Funken Sorge.
"Das ist der Moment, auf den du vorbereitet wurdest! Fühle die Essenz – lass sie in dich hinein!"
Doch alles, was Seren fühlte, war das überwältigende Chaos. Eine fremde, unerträgliche Kraft drang in ihren Körper ein, durchdrang sie bis ins Mark.
Sie schrie, wollte weglaufen, doch der Griff ihres Vaters ließ es nicht zu. In diesem Moment fühlte sie sich wie ein kleines Kind, verloren in der riesigen, zerrissenen Mall.
Der Essenzsturm verschluckte sie, riss ihre Gedanken mit sich.
Dann – Stille.
Sie war nicht mehr in der Mall. Die Welt um sie herum hatte sich verändert. Sie trieb in einer endlosen Dunkelheit, umgeben von einem Himmel, der vor weißen Lichtpunkten flimmerte.
Kein Boden, kein Horizont, nur Leere. Doch sie fiel nicht. Sie schwebte, schwerelos, orientierungslos.
Vor ihr erschien plötzlich ein Licht. Es war hell, strahlend, wie ein goldener Kreis, der aus dem Nichts wuchs. Eine Hand aus reinem Licht streckte sich aus dem Kreis zu ihr.
Die Bewegungen waren ruhig, einladend. Ihre Instinkte schrien sie an, nicht danach zu greifen, die Hand nicht zu berühren – doch das Gefühl, vor einer göttlichen Macht zu stehen, überwältigte sie.
Zitternd hob sie ihre eigene Hand und berührte das Licht.
Mit einem gleißenden Blitz wurde alles weiß. Sie war blind, gefangen in einem endlosen Glühen.
Dann begann sich der Raum um sie zu formen, oder vielmehr die Illusion eines Raumes. Sie befand sich in einer vollkommen weißen Weite. Es gab keine Wände, keinen Boden, keinen Himmel, nur das reine, blendende Weiß.
Vor ihr schwebte alte Schrift, mystisch und erhaben, verziert mit Mustern, die an antike Gravuren erinnerten. Obwohl sie die Sprache nicht kannte, verstand sie die Worte.
"In finsterster Nacht und im hellsten Licht,
erhebt euch, Auserwählte, im göttlichen Gericht.
Das eine trägt Schatten, das andere das Strahlen,
beide sollen das Schicksal der Welten malen.
Zwei Pfade, ein Ziel, zwei Kräfte, ein Preis,
ein Bund, der entflammt, wenn das Gleichgewicht zerreißt."
Seren las die Worte und fühlte ein Schaudern, das ihren ganzen Körper durchlief. Die Geschichte, die diese Schrift erzählte, schien sie zu durchdringen, als wäre sie selbst ein Teil davon.
Es war beängstigend, und doch fühlte sie sich in diesem Moment vollständig. Die Worte fühlten sich auf irgendeine Art und Weise tröstlich an.
Dann veränderte sich die Schrift. Sie verschwand, löste sich auf und wurde ersetzt durch ein einziges, rot brennendes Wort:
"KÄMPFE!"