"Euere Hoheit, ich habe Euch gefunden!", verkündete der Diener und verbeugte sich eilig. Er gehörte zu den Bediensteten der Familie Netheridge.
Prinz Ron zog die Stirn in tiefe Falten. "Ihr habt was?"
Noch immer aufgeregt wiederholte der Diener seine Worte. "Ich habe Euch gefunden, Eure Hoheit. Ich habe das Spiel gewonnen."
Ron war alles andere als erfreut. Seine eigenen Diener verstanden seine Mimik, aber dieser Mann aus dem Hause Netheridge offenbar nicht, also musste er es ihm wohl oder übel beibringen.
Der Diener hob seinen Kopf, begegnete dem durchdringenden Blick des Prinzen und erblasste. Schweiß brach aus und Panik breitete sich aus. War das der zuvorkommende und freundliche Prinz, den er zu kennen glaubte? Dieser hier wirkte beängstigend!
Kein Wunder, dass Prinz Ron beängstigend aussah. Er war außer sich vor Zorn. Er kam sich vor wie eine Ehefrau, betrogen von ihrem Mann mit einer anderen – und die Andere war seine eigene Schwester!
"Was sagtet Ihr gerade? Ihr habt mich gefunden? Ihr habt das Spiel gewonnen?"
Der Diener "!!!"
Sein Geist entschlüsselte die versteckte Botschaft in Windeseile. Schnell wandte er sich ab und setzte seine Suche leise fort, so als hätte er den Prinzen überhaupt nicht bemerkt. Seine schauspielerische Leistung war wirklich lobenswert. Diese schnelle Wandlung – erstaunlich!
Der Diener dachte, vielleicht konnte der Prinz es nicht leiden, Spiele zu verlieren... ein schlechter Verlierer eben. Er musste dafür sorgen, es den Anderen mitzuteilen, damit sie keinen Ärger bekamen.
Zufrieden setzte Prinz Ron seine Überlegungen fort. Wo konnten sie nur stecken? Er beschloss, seine Schritte zu revidieren. Ron marschierte eine lange Zeit. Die Sonne kletterte höher und höher am Himmel und er wurde von seinem eigenen Schweiß durchnässt. Bevor der Prinz es realisierte, hatte er sich verirrt.
Ron geriet in Panik. Wo zum Teufel befand er sich? Wie war er hierhergelangt? Aber vor allem, wie konnte er den Rückweg finden?
Der Prinz fand sich in einem Garten wieder, erfüllt mit unzähligen Statuen. Groß und klein. Dick und dünn, eingebettet von Blumen unterschiedlichster Gattungen und Farben. Er war fassungslos über die Schönheit des Ortes. Die Luft war frisch, Vögel sangen, Schmetterlinge flogen und setzten sich auf die Blüten. Doch das Erstaunlichste war nicht dies alles. Es war vielmehr der gigantische Baum, der mitten im Garten stand. Sein Stamm war gerade, aber die Äste breiteten sich weit aus und formten die Gestalt eines Regenschirms. Der Baum schimmerte und von ihm ging ein leises, sanftes Summen aus.
Er fragte sich, was das wohl für ein Baum sein könnte? Noch nie hatte er so einen zuvor gesehen, noch hatte er darüber in Büchern gelesen, die er besaß. Keiner seiner Lehrer hatte ihn je erwähnt. Könnte dieser Baum eine seltene, der Welt unbekannte Spezies sein?Ron träumte davon, als Entdecker des Regenschirmbaums in die Geschichte einzugehen. Er würde berühmt werden, und alle in Ashenmore würden ihm zu Ehren singen. Menschen würden von überall herreisen, nur um ihn zu sehen. Er war nicht nur ein gutaussehender Prinz. Er war auch klug!
Ja, das alles nur, um einen baumförmigen Regenschirm zu finden...
Es war, als wäre seine ganze Erschöpfung spurlos verschwunden. Er sammelte sein Gewand und ging auf den Baum zu. Je näher er kam, desto aufgeregter wurde er. Das Summen des Baumes wurde immer lauter und gerade als Ron seine Hand ausstreckte, brach der Boden unter ihm zusammen, und er fiel in eine tiefe Grube.
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"Den Prinzen finden! Königlicher Erlass von Seiner Majestät! Jeder muss an der Suche teilnehmen! Der Prinz von Ashenmore muss gefunden werden!"
In Netheridge herrschte pures Chaos. Die Gemüter waren in Aufruhr. Niemand wusste, was zu tun war. Der Prinz war seit zwei Tagen verschwunden!
Suchtrupps wurden vom König ausgesandt. Selbst die Stadtbewohner hatten eigene kleine Suchgruppen gebildet, aber der Prinz war nirgendwo zu finden.
Die Königinmutter war zutiefst besorgt. Sie konnte weder essen noch richtig schlafen. Ihre potenzielle Schwiegertochter war einfach verschwunden. Wie konnte sie ruhig sein? Wenn die Nachricht Ashenmore erreichte, ließe sich ein Krieg nicht verhindern. Die Elfen, deren Anzahl ohnehin schon klein war, würden komplett ausgelöscht! Sie betete inbrünstig zum Mutterbaum, ihr den Aufenthaltsort der erhofften Zukünftigen ihres Sohnes zu offenbaren, obwohl die beiden sich bisher kein bisschen Zuneigung gezeigt hatten...
Prinzessin Mariel konnte nur weinen. Ihr zukünftiger Ehemann war verschwunden. Wie ihre Mutter konnte sie nicht essen oder schlafen. Sie verbrachte jede Minute damit, verzweifelt zu beten, dass der Prinz sicher war.
Prinz Ludiciel führte die Suchtrupps Tag und Nacht an, pausierte nur, um Wasser zu trinken, während der König jeden Winkel des Palastes, jede geheime Kammer, jedes verborgene Zimmer und sogar die Grüfte ihrer Vorfahren durchsuchte, weil er glaubte, der Prinz würde nicht fehlen. Er würde nur spionieren.
Prinzessin Rose wiederum übte enormen Druck auf den König und seine Geschwister aus. Ihr liebster Bruder musste gefunden werden! Wie sollte sie ihren Eltern gegenübertreten? Wie sollte sie ihrem Volk sagen, dass ihr Bruder in fremden Landen verschwunden war? Ihr Ruf wäre ruiniert. Sie wusste, dass Ron wahrscheinlich an einem Ort geschnüffelt hatte, an dem er nicht sollte und dann in Schwierigkeiten geraten war, aber sie konnte so etwas nicht einfach sagen. Sie musste die ganze Schuld auf Netheridge schieben.
Leo und die 12 Diener, die mit dem Prinzen Verstecken spielten, waren am meisten besorgt. Besonders Leo. Erst wurde der Prinz verletzt. Nun war er verschwunden. Er musste entführt worden sein. Die Wut in Leo war wie ein Tornado, und er konnte sie nur ablassen, indem er die 12 Diener anführte, um den Prinzen um jeden Preis zu finden.
Der Diener, der den Prinzen an jenem Tag zuletzt gesehen hatte, war der größte Empfänger von Leos Zorn und der unglücklichste von allen. Als er sich mit den anderen Dienern traf, erzählte er ihnen, wie sehr der Prinz es hasste, Spiele zu verlieren, und wie er so tun musste, als hätte er den Prinz nicht gesehen. Als der Prinz nicht gefunden wurde, meldeten ihn die anderen Diener bei Leo.
Der arme Diener wurde vom barschen Leibwächter heftig zurechtgewiesen. Seine Aufgabe war es, eine Fackel zu halten und ohne Unterbrechung zu suchen. Nicht eine einzige Sekunde. Ob Regen oder Sturm, Erdbeben oder Tornado, man fand ihn mitten in der Nacht, wie er durch den Palast lief und den Namen des Prinzen rief, während ihm ununterbrochen Tränen über das Gesicht liefen.
Ganz Netheridge war Tag und Nacht erleuchtet, jede arbeitsfähige Person suchte aktiv. Die Kinder, die nachts nicht hinausgehen konnten, beteten zum Mutterbaum und dem Erdgeist, um den Prinzen von Ashenmore zu retten.