Währenddessen erwachte der besagte Prinz von Ashenmore und stellte fest, dass er sich in einer sehr dunklen Grube befand. Das einzige Licht kam von dem Loch über ihm, in das er hineingefallen war. Er war zutiefst verängstigt. Es roch nach feuchter Erde und es war so kalt, dass er es bis ins Mark spürte. Obendrein plagte den armen Prinzen der Hunger und sein Magen knurrte lautstark. Plötzlich hörte er ein spöttisches Lachen.
"Ihr Menschen seid so schwach. Ihr habt zwei volle Tage geschlafen. Wusstet ihr das?"
Ron erschrak. Die Stimme klang scharf und knackig. "W-Wer sind Sie? Warum kann ich Sie nicht sehen?"
Mit einem Fingerschnippen erhellten perlmuttfarbene Lichter die finstere Grube. Unzählige Perlen waren in den Wänden der Grube eingelassen und strahlten einen silbernen Schein aus. Im Licht zeigte sich auch die Gestalt der sprechenden Person.
Ron war geschockt, als er einen durchscheinend aussehenden Mann in weißen Roben sah, der ihn anstarrte. Der Mann wirkte recht jung, Ende zwanzig vielleicht. Sein silbernes Haar war nach hinten gegelt und seine Augen waren violett, wie die des Königs. Doch eine Eigenschaft sorgte dafür, dass Ron mit offenem Mund dasaß. Die Ohren des Mannes waren lang und spitz – genau wie in den Geschichten über die Wesen, über die Ron so gerne las, genau wie die Figur in seinem Lieblingsbuch.
Ein Elf!
Der Prinz wusste nicht, was er tun oder sagen sollte.
Der Elf schnalzte mit der Zunge. "Warum schaust du so? Klappe zu, du siehst aus wie ein Trottel."
Ron war jedoch zu aufgeregt, um den Mund zu halten. "Sind Sie wirklich ein Elf?"
"Natürlich", antwortete der Elf und wirkte sehr stolz. "Erkennst du das nicht an meinen spitzen Ohren? Ich bin ein Elf, sogar ein königlicher. Mein silbernes Haar und die violetten Augen sollten dir das sagen. Jeder Elf mit königlichem Blut besitzt beides. Mein Name ist Kayziel der Sechste, Bruder von König Fayziel dem Dritten. Was sitzt du noch auf deinem Hinterteil? Verneige dich vor mir."
Ohne zu zögern, ging Ron auf die Knie und verbeugte sich, wenn auch etwas unbeholfen. Warum sollte der Prinz von Ashenmore sich vor einer geisterhaft anmutenden Gestalt verbeugen, die behauptet, der Bruder eines verstorbenen Elfenkönigs zu sein? Er war bis in den Tod erschrocken! Sein Körper zitterte und sein Herz pochte vor Angst. Er war in eine Grube gefallen und traf auf einen Elfengeist! Da war niemand, der ihm helfen konnte! Natürlich hatte er Angst.
Aber Moment. Kayziel? König Fayziel? Warum kamen ihm diese Namen so bekannt vor? Und diese violetten Augen, die silbernen Haare...
Der Elf war sichtlich zufrieden. "Du darfst aufstehen", befahl er, und Ron richtete sich wieder auf. "Nun erzähle, Mensch, wer bist du und wie bist du hierher gelangt?"
Ron, noch immer die Identität dieses Geisterelfen ergründend, keuchte. Es war ihm endlich klar geworden! Die königliche Familie! Zedekiel, Ludiciel, Mariel, Tariel, Sariel – ihre Namen klangen alle so ähnlich. Ihm fiel ein, dass er einmal in einem Buch gelesen hatte, dass es bei der elfischen Königsfamilie Tradition ist, ihre Kinder nach verstorbenen Familienmitgliedern zu benennen, damit diese stets in Erinnerung bleiben.
Kein Wunder also, dass er Kayziel der Sechste ist. Er musste der sechste Träger dieses Namens in der Familiengeschichte sein. Und wenn Kayziel der sechste Kayziel war und König Fayziel der dritte, wie hoch war dann die Zahl bei Zedekiel und den anderen? Das musste herausfinden. Er wollte alles über seinen zukünftigen Ehemann erfahren.
Kayziel war verärgert. Er hatte dem unbedeutenden Menschen eine Frage gestellt, und dieser starrte nur geistesabwesend zurück. "Ich habe dir gerade eine Frage gestellt!", rief er verärgert. Seine Stimme dröhnte und ließ die ganze Grube erzittern.
Ron wurde kreidebleich und ging schnell wieder auf die Knie. "Vergebt mir, Eure Hoheit! Ich habe mich von Eurer Erscheinung ablenken lassen!" Der arme Ron geriet in Panik und konnte sich nichts anderes ausdenken.Kayziel war fassungslos. "Meine... Attraktivität?"
Der Prinz nickte begeistert. "Eure Hoheit, Ihr seid atemberaubend schön. Eure Augen glänzen wie... wie Sterne! Und Euer Gesicht... Euer Gesicht ist so markant und strahlend wie die Sonne! Euer Lächeln ist so leuchtend, dass es mein armes Herz hat aussetzen lassen. Eure Hoheit, verzeiht mir mein Starren, das Euch Unbehagen bereitet haben mag. Ich konnte einfach nicht anders."
Der Elf: "..." 'Wann habe ich denn überhaupt gelächelt?'
Prinz Ron, der seinen Kopf gesenkt hatte, betete inbrünstig, dass dieser Geist einfach verschwinden möge, damit er sich darauf konzentrieren könne, aus der Grube herauszukommen.
Aber tatsächlich hatte er überhaupt nicht gelogen. Kayziel war wirklich gutaussehend. Er hatte dieses maskuline Macho-Aussehen und die scharfen Gesichtszüge eines elfischen Kriegers. Nur war er eben nicht so gutaussehend wie Zedekiel. Er kam nicht einmal annähernd an Zedekiels Schönheit heran. Tatsächlich, so fand Ron, konnte niemand mit der attraktiven Erscheinung seines Geliebten mithalten. Sein Geliebter war der Schönste auf der Welt, also kam es nicht infrage, dass er Augen für einen anderen haben könnte. Geschweige denn für den Geist seines Onkels.
"Nun... ähm, danke", sagte Kayziel, der sich ein wenig verlegen fühlte, sich jedoch schnell wieder fasste. "Wer bist du?"
Ron räusperte sich und lehnte sich zurück. "Mein Name ist Ron Ashenmore. Sohn von König Cain und baldiger Kronprinz von Ashenmore", sagte er ganz erfreut. Sobald der Elfengeist realisieren würde, dass er ebenfalls ein Prinz war, würde er den Respekt bekommen, den er verdiente. Vielleicht würde er ihm sogar helfen, aus der Grube zu kommen.
Kayziels Augen verdunkelten sich. "Ashenmore?", spottete er.
Der Prinz erinnerte sich plötzlich daran, dass Zedekiel sein Volk hasste und somit auch Kayziel. Der Blick in Kayziels Augen sprach Bände: 'Ich will jemanden töten', und Ron wollte nicht sterben, also begann er wirres Zeug zu reden. "Eigentlich bin ich nicht sein legitimer Sohn. Gewiss, sein Blut fließt in meinen Adern, aber meine Mutter ist nur eine einfache Dienstmagd, die aus einem abgelegenen Dorf stammt. Ich lebe nicht einmal im Schloss und stehe ihm nicht wirklich nahe."
Ron durchtrennte sofort alle Bande zu seinem Vater, um sein Leben zu retten. Elfen sind normalerweise mächtig und beherrschen die Magie. Wer weiß, wozu ein Elfengeist fähig ist?
Kayziel war etwas stutzig. Er hob eine Augenbraue. "So viele Informationen. Hast du dich nicht gerade als Kronprinz von Ashenmore vorgestellt? Wie kann der Kronprinz ein uneheliches Kind sein?"
Ron geriet in Panik. Schnell fiel er auf die Knie. "Vergebt mir, Eure Hoheit. Ich prahle gern damit, der Kronprinz zu sein, aber ich bin es nicht. Was hätte der wahre Kronprinz überhaupt hier zu suchen?"
Der Elfengeist brummte nachdenklich. Der Mensch schien recht zu haben. Was hätte der Kronprinz unter seinen geschworenen Feinden zu suchen?
"Ähm, Eure Hoheit, darf ich eine Frage stellen?" fragte Ron.
"Sprich."
"Warum seid Ihr hier? Warum geht Euer Geist nicht ins Jenseits, wie es andere tun?"
Die Frage schien einen wunden Punkt zu treffen und der Geist sank langsam in die Knie, mit einem Gesicht so blass, dass Ron hindurchsehen konnte. Er fühlte sich plötzlich furchtbar schlecht. Dieser Geist würde ihn jetzt sicher töten. Warum musste er eine Frage stellen, die ihn traurig machen würde?
"Mein eigener Neffe hat meine Seele hier versiegelt, nach dem Tod meines Bruders und dessen ältestem Sohn", sagte Kayziel. Seine Stimme war leise, doch Ron konnte den nicht zu überhörenden Kummer und die Qual hören. Er konnte den Schmerz des Elfen deutlich sehen.