In der hinteren Küche.
Zhi stieß die schwere Tür auf und trat hinein, seine wachsamen Augen musterten aufmerksam die Umgebung.
Er beachtete den stickigen und muffigen Geruch kaum und kräuselte lediglich seine Nase, um sein Missfallen auszudrücken. Seine Blicke richteten sich sofort auf die hölzernen Schränke und Regale. Dort – wenn überhaupt – mussten die Lebensmittel gelagert werden.
Mit einem Fingerzeig erschien ein Dolch in seiner Handfläche, den er griffbereit hielt, während er weiter in die vernachlässigte Küche vordrang. Er benutzte die Spitze des Dolches, um den Schrankgriff zu haken und riss ihn auf, hustete dabei, als eine Staubwolke ihm ins Gesicht flog.
Im Schrank fand er nichts als einen Stapel antiker Teller, die von einer dünnen Staubschicht bedeckt waren.
Er ließ es dabei und ging zum nächsten Schrank, doch in diesem Moment fing eine Bewegung aus dem Augenwinkel sein Auge. Erschrocken drehte er sich, den Dolch fest umklammert und bereit zum Werfen... nur um zu sehen, dass es eine kleine graue Maus war, die hinter einer Dose auf dem Boden hervorlugte.
"Quietsch...", gab die maus mit rubinroten Augen von sich und flüchtete hastig, als sie bemerkt wurde, woraufhin Zhi erleichtert aufatmete.
Es war also nur eine Maus...
Es war nicht ungewöhnlich, in der Küche ein oder zwei Mäuse zu sehen. Seine Anspannung ließ nach und er setzte die Durchsuchung der Schränke fort.
Ohne zu bemerken, dass hinter ihm, in den dunklen Ecken, die das Licht nicht erreichen konnte, zahlreiche Paare winziger rubinroter Augen aufsprangen und ihn unablässig anstarrten.
***
"Ah, stimmt", erinnerte sich Jin Jiuchi plötzlich, als sie den Gang im zweiten Stock entlanggingen. Er beugte sich hinunter, um Nians violette Augen zu treffen, und fragte zum zweiten Mal: "Welche Art von Geschäft machst du mit diesem Mann, Nian'er?"
Je mehr Nian darüber nachdachte, desto mehr fühlte er sich von Jin Jiuchis Krokodilstränen getäuscht und weigerte sich deshalb, dem hinterhältigen Gesicht des Mannes zu begegnen. "Das geht dich nichts an", sagte er kühl und blieb im Raum stehen, der der Treppe am nächsten lag – Zimmer 201. Der Nahrungsmangel kam genau zur rechten Zeit. Nun könnte er das tun, was er seit seinem Eintritt in diesen Zyklus geplant hatte – unter dem Vorwand der Nahrungssuche.
...wenn nur dieser verfluchte Husky nicht wie ein Klotz an ihm kleben würde.Warum hatte er Jin Jiuchi aufgefordert, ihm wieder zu folgen? Es musste ihm das Wasser im Kopf gestiegen sein, dass er so etwas in der Hitze des Gefechts von sich gab. Er hätte diesen Mann so weit wie möglich fortjagen sollen!
"So grausam...", murrte Jin Jiuchi und fühlte sich zutiefst zu Unrecht behandelt. "Ich sage es zu deinem Besten. Nian'er, dieser Kerl riecht seltsam und verräterisch. Ich wette, er hat in der Vergangenheit viele Diebstähle begangen. Du musst also aufpassen, dass du nicht hinters Licht geführt wirst!"
'Bist du die Reinkarnation eines Hundes?' Nian verlor sich erneut in Gedanken. Er war amüsiert über die unerwartete Fürsorge, die er in Jin Jiuchis Worten entdeckte. Wer war hier eigentlich der Anfänger und wer der Erfahrene?
"Ich kann auf den ersten Blick erkennen, dass er kein guter Mensch ist", ließ er ein leichtes Schnauben hören. "Umso länger man im Zyklus verweilt, desto mehr solcher Leute trifft man. Selbst wenn jemand in der normalen Welt ein angesehener Gelehrter ist, hier kann man nicht wissen, wie vielen Menschen er geschadet hat, nur um zu überleben. Ist das nicht abstoßend?"
Während er sprach, zog er einen vertrauten gelben Talisman aus seiner Tasche, bereit, diesen an die Tür, vor der er stand, zu kleben, als er plötzlich eine hitzige Präsenz hinter sich spürte.
"Hmm...", schnupperte Jin Jiuchi am Nacken der Jadepuppe. "Aber du riechst immer noch rein und - aua!" Er hielt sich die pochende Wange und schimpfte: "Nian'er, warum hast du mir eine Ohrfeige gegeben?!"
"...Und du fragst noch, warum!" Nian presste die Worte heraus, seine Wangen rot vor Verlegenheit. Er ordnete sein langes silbernes Haar neu, sodass es seinen Nacken bedeckte und diesem verrückten Perversen keine weitere Gelegenheit bot, ihn wieder zu riechen. 'Rein'? Hatte er gerade 'rein' gesagt? Wie konnte er ahnen, dass Nian immer noch—
Nian schluckte, unfähig, diesen Gedankengang zu Ende zu führen, sonst würde er wirklich vor Wut sterben. Wie erwartet war dieser Mann wirklich durch und durch ein verrückter Perverser!
Er beachtete Jin Jiuchi nicht länger, drehte sich mit einem Schnauben weg und klatschte den gelben Talisman an die Tür. Fast augenblicklich begann der Zinnober auf dem Talisman rot zu glühen, und dann begann er sich aus dem Papier zu schlängeln, um durch jeden Spalt in den Raum zu dringen, den er finden konnte.
"Wow...", Jin Jiuchis silberne Augen weiteten sich vor Erstaunen, und er drehte sich zu Nian um, ihn ehrfürchtig anzustarren. "Wieder ein hervorragender Zaubertrick!"
Natürlich wurde er ignoriert.
Nach einem Signal aus dem Inneren hielt Nian den Türknauf und stieß die Tür auf, die einen leeren Raum enthüllte, der aussah, als gehöre er einer jungen Frau. Alles im Raum war ordentlich angeordnet; zwei große Plüschpuppen lagen auf dem Bett mit hellrosa Bezügen, und ein Schminktisch stand an einer Wandseite, auf dem einige Tuben Kosmetika und verschiedene Hautpflegeprodukte aufgereiht waren.
Nians Augen leuchteten auf, als er das sah. So jemand muss doch sicher den einen oder anderen Snack in seinem Zimmer versteckt haben, nicht wahr?
"Lass uns hier suchen", sagte er, während er den Raum betrat, doch dann bemerkte er, dass Jin Jiuchi einfach an der Tür stand, ohne einen Schritt hineinzutun. Er zog die Stirn kraus: "Was ist schon wieder mit dir?"
"Nian'er...", Jin Jiuchi neigte verwirrt den Kopf. "Willst du diese Plüschpuppen mitnehmen?"Nian verdrehte die Augen. Er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was in Jin Jiuchi vorging, dass er so eine lächerliche Frage stellte. Wer würde sich an diesem Ort, an dem Leben und Tod ungewiss bis zur letzten Sekunde waren, für Plüschtiere interessieren?!
"Wir sind auf der Suche nach ESSEN", betonte er jedes Wort und wünschte sich, dass er groß genug wäre, um Jin Jiuchi auf den Kopf zu schlagen.
Jin Jiuchi blinzelte. "Aber es gibt doch hier kein Essen, oder?"
"Was?!"
"Wenn du Essen willst ..." Jin Jiuchi trat einen Schritt zurück und schnupperte in der Luft. Dann zeigte er auf einen Raum schräg gegenüber dem ihrigen. "Dort findest du was."
Mittlerweile bezweifelte Nian nicht mehr, wie ausgezeichnet Jin Jiuchis Geruchssinn war – vor allem, wenn es um Essen ging. Er stürzte nach vorne und trat Jin Jiuchi genervt gegen das Schienbein, was ihm einen überraschten Aufschrei entlockte: "Sag es mir das nächste Mal früher, wenn du so was riechen kannst, du verdammter Husky! Ich habe einen Requisiten umsonst verschwendet!"
"Aua, aua, aua!" Jin Jiuchi hielt sich das Bein und hüpfte verwirrt herum. "H–Husky?! Wie komme ich dazu, ein Husky zu sein?!"
Vor Wut dampfend stapfte Nian auf den Raum zu, den Jin Jiuchi gezeigt hatte, seine violetten Augen leuchteten zornig. Ihm war nicht bewusst, wie viel Vertrauen er in den Mann hatte, um seinen Worten ohne weitere Frage zu folgen.
***
Zur Mittagszeit versammelten sich alle wieder im Speisesaal.
"Wow ..." Tang Ye schaute beeindruckt auf die Ansammlung von Keksen, Kartoffelchips und einer versiegelten Dose Kekse auf dem Tisch. Er wandte sich dem selbstgefälligen Jin Jiuchi zu, der so glücklich war, dass er fast Tränen vergoss. "Ihr habt das alles innerhalb von vier Stunden gefunden?! Ja, heute werden wir sicher gut durchkommen!"
Xinxin konnte ihren Blick nicht von dem Essen lösen, sie schluckte hungrig: "D–Da ist so viel Essen..."
"Hehe", Jin Jiuchi rieb sich mit stolzem Gesichtsausdruck die Nase. "Bin ich nicht genial?"
"Ja, ja! Bruder Yang ist der Größte! Der allergrößte auf der ganzen Welt!" Die beiden überhäuften ihn weiter mit Lobeshymnen, sodass Jin Jiuchis Nase immer höher in den Himmel ragte.
Neben ihm verdrehte Nian subtil die Augen. Okay, vielleicht war er doch ein wenig beeindruckt. Jin Jiuchis Geruchssinn war schärfer, als er erwartet hatte. Er konnte nicht nur eine versiegelte Dose Kekse von außen riechen, sondern auch erkennen, ob etwas Verdächtiges darin war, was Nian vor dem Verbrauch seiner Talismane bewahrte!
Nian fand endlich einen Grund, Jin Jiuchi trotz seiner nervigen, perversen und kindischen Art an seiner Seite zu behalten.
Essen und Gefahrendetektor. Das klang eigentlich ganz gut.
"Bruder Zhi!" Tang Ye winkte dem Mann zu, der gerade durch die Tür kam. "Komm und schau, was Bruder Yang für uns gefunden hat! Und du? Hast du auch etwas gefunden?"
Zhi griff in seine Tasche, nahm eine Packung Kekse heraus und legte sie auf den Tisch. "Nur das."
"Okay, okay, das ist schon in Ordnung. Ich bin sicher, wir haben alle Hunger. Wie wäre es, wenn wir aufteilen..."
Nian spürte, wie jemand an seinem Ärmel zupfte, und blickte auf, um Jin Jiuchi mit einem ungewohnt ernsten Gesichtsausdruck vor sich zu sehen. Sein Herz setzte einen Schlag aus und als der Mann ihn von der Menge weg an den Rand des Saals führte, folgte er ihm ohne ein Wort.
"Was ist los?" fragte er, als sie außer Hörweite waren, ohne zu wissen, warum er seine Stimme senkte.
"Nian'er", Jin Jiuchi sah ihn ernst an. Nichts von seiner albernen, an einen Husky erinnernden Art war zu erkennen. Sein Kinn war angespannt und seine silbernen Augen hatten etwas Stahlhartes an sich, was Nian'ers Herz schneller schlagen ließ.
"Was ist los?"
"Dieser Mann...", Jin Jiuchi zog die Stirn in Falten. "Der Mann, der als Letzter reingekommen ist, ist nicht Bruder Zhi."
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A/N: Am 11., 20. und 26. Mai gibt es ein Massenveröffentlichungs-Event, also bitte darauf warten ^^