"Du hast solche Befehle von Elene übernommen", hatte er noch nie in seinem Leben etwas Absurderes erlebt. Er wollte Evangeline nur einschüchtern. Ihr deutlich machen, dass sie gefangen sei und nur er ihr zu helfen vermöge. Er war so nahe daran, sie zu brechen. Aber... er schüttelte seinen Kopf.
"Sie ist weder die Monique-Witwe noch war sie jemals meine Frau. Was bringt euch dazu zu glauben, dass ihr gehen könnt, nur weil sie es gesagt hat?", spottete er, als sich die Ritter untereinander austauschten.
"Die Dame behauptete, es sei Euer Wunsch."
"...." Der ernste Ausdruck auf ihren Gesichtern verriet ihm, dass sie die Wahrheit sprachen.
"Die Dame sagte, Ihr seid von unserer Aufrichtigkeit berührt und möchtet uns einen freien Tag gewähren. Ihr habt andere Ritter beauftragt, heute die Wache zu übernehmen, und wir dürfen uns frei nehmen. Im Palast sind sowieso keine anderen außer dem Paar. Wir... wir bedauern, dass wir hinters Licht geführt wurden, mein Herr", sprach der Mann feierlich, während Harold laut auflachte. Er lachte aus vollem Herzen und verwirrte damit alle Anwesenden.
"Dieses kleine... Sie hatte Mut", lachte er noch, als sein Gesicht plötzlich kalt wurde. So eiskalt, dass die Ritter eine Gänsehaut bekamen.
"Jemand war im Palast und hat meine Frau entführt. Untersucht das Land rund um den Palast. Viele Arbeiter leben in den Wäldern dort draußen. Oder Dorfbewohner... Jemand muss eine neue Kutsche oder einen Mann bemerkt haben, der eine Frau entführt. Ich will wissen, wo sie ist, bevor es Abend wird, sonst wollt ihr nicht erleben, was ich mit euch anstelle." Die Ritter verbeugten sich und gingen sofort.
Harold blickte auf, als er den Blick eines Beobachters spürte, und bemerkte, dass die Monique-Witwe ihn anstarrte. Er wusste, sie konnte sie nicht hören, aber sie ahnte, was vorging.
Ihr strenger Blick sagte es ihm, doch er ignorierte sie. Unter ihrer finsteren Beobachtung bestieg er die Kutsche. Sein Adjutant reichte ihm eine Karte des Besitzes.
"Wenn der Mann Geld gewollt hätte, hätte er bereits Kontakt zu Callum aufgenommen. Der Mann will etwas anderes." Callum nickte ernst. Er war sich nicht sicher, warum sein Herr plötzlich so besorgt war. Es konnte nicht nur die Angst vor Ermittlungsbeamten sein. Sein Herr war verliebt in die zweite Tochter. Die erste hatte er nur wegen Geld und Ansehens geheiratet. Was also trieb ihn um?
"Meister, wäre es nicht besser, wenn die Dame stürbe?", fragte er verwirrt, als seine Augen aufgerissen wurden. "Befürchtet Ihr, dass sie von einem Verbündeten gerettet wurde und diese sich gegen Euch wenden könnten?" Er nickte bei der Erkenntnis und überprüfte die Karte erneut, wobei ihm die Reaktion auf Harolds Gesicht entging.
Selbst seine Mitarbeiter glaubten, dass er Evangeline verachtete. Nur er wusste, dass er noch nie jemandem begegnet war, der so fesselnd war. Alles zerbrach immer in seinen Händen. Seien es Schmetterlinge, die er in seiner Kindheit gefangen hatte oder das Haustier, das er aufgezogen hatte. Alle hatten sich seinen guten Absichten, seinem Lächeln gefügt, bis er sie aus Langeweile tötete. Aber diese Frau... nicht ein einziges Mal hatte sie ihn abhängig angeblickt.
Sie war stets so stark, so furchterregend, so aufrecht, als bräuchte sie niemanden auf dieser Welt. Sie brauchte ihn nicht. Also würde er sicherstellen, dass sie es tat, und bis dahin konnte ihr niemand wegnehmen!„Der Flur und die Treppe waren blutbefleckt, als wir ankamen. Die Dame muss verletzt worden sein. Selbst wenn er sie in der Kutsche versteckt hatte, müssen sie in der nächsten Stadt Halt gemacht haben, um ärztliche Hilfe zu suchen. Wenn nicht, können wir dort nachsehen", erläuterte Harold, während er und sein Begleiter die möglichen Orte, wo ein Arzt zu finden wäre, auf der Karte markierten.
Callum überprüfte jeden Ort persönlich, begleitet von zwei Rittern. Harold stand indes mitten auf dem Marktplatz, wo Männer und Frauen umhergingen, lachten oder in ihren Läden arbeiteten. Ihm fielen drei Bettler auf, die nahe eines Brunnens saßen. Vor ihnen lag eine zerfetzte Mütze mit nur ein paar Nickel- oder Kupfermünzen darin.
Der bevorstehende Winter hatte die Einwohner bereits in seinen Bann gezogen, und niemand hatte Zeit, sich um die Armen zu kümmern. Harold trat näher und legte in jede Mütze eine Goldmünze.
Die Bettler waren schockiert, vor allem ein junges Mädchen unter ihnen. Sie hob eine der Goldmünzen auf und hatte wohl noch nie zuvor etwas so Glänzendes geschenkt bekommen. Überrascht blickte sie auf, als Harold lachte.
"Gefällt dir die Münze?", fragte er amüsiert. Sein Lächeln brachte das Mädchen zum Erröten, doch sie nickte. Ihre Wangen färbten sich noch röter, als er erneut lächelte.
"Möchtest du vielleicht noch mehr davon?", bot er an. Seine Worte zogen die Aufmerksamkeit aller dort sitzenden Bettler auf sich. Eine Goldmünze – sie entsprach dreißig Silbermünzen oder hundertfünfzig Kupfermünzen. Eine einzige war schon mehr als genug, doch zwei davon könnten ihnen über den Winter helfen. Ihre Augen leuchteten auf, als jeder von ihnen Harold ansah, fast als blickten sie auf einen Gott.
Der Gedanke brachte Harolds Augen zum Flackern.
"Ich suche nach meiner Frau. Sie war gestern Abend noch in unserem Garten, als wir vom Fest heimkehrten, aber jemand hat sie entführt. Wenn jemand von euch eine junge Frau gesehen hat, die von einem Mann weggebracht wurde, werde ich diejenigen belohnen. Sie muss sich gewehrt haben, also könnten beide verletzt sein. Jeder Hinweis könnte hilfreich sein." Die Bettler sahen sich gegenseitig an, schienen zu überlegen, doch das Mädchen schien nicht nachdenken zu müssen.
Ihre Augen funkelten vor Freude, als sie nickte.
"Letzte Nacht, als schon alle schliefen, durchwühlte ich noch die Mülltonnen nach Essen, da hörte ich das Rattern einer Kutsche. Ein Mann in einem Mantel hielt eine Frau im Arm und fuhr zum Haus von Herrn Sullimore. Sie kamen bei Morgengrauen heraus und fuhren mit der Kutsche davon", berichtete sie in der Hoffnung auf eine Belohnung, während Harold tief Luft holte.
„Welche Farbe hatte das Kleid, das die Frau trug?"
„Es war lavendelfarben, mein Herr."