Anne und Emily kehrten von ihren letzten Einkäufen zurück. Die Straßen waren still, nur einige wenige Autos fuhren vorbei und gelegentlich schlenderten Passanten über die Gehwege.
Seit einer Woche lebte Anne nun schon mit Emily und Heather zusammen, ihre Bindung wuchs mit jedem Tag stärker. Doch morgen würden sie diese stille Stadt verlassen und nach Alaska fliegen, um dort ein neues Kapitel ihres Lebens zu beginnen. Emily hatte begeistert von ihrem Reiseziel erzählt und die Schönheit von Wolf Creek beschrieben, wo das Haus und das Café ihres Großvaters, eingebettet zwischen hoch aufragenden Bäumen und wilder Natur, am See lagen.
"Es wird dir dort gefallen, Anne", sagte Emily, als sie auf das Motel zugingen, in dem sie untergekommen waren. "Der See ist herrlich und das Café ist, als wäre es aus einem Märchen. Mein Großvater hat mir immer Geschichten über die Wölfe erzählt, die im Wald herumstreifen. Er hat immer gesagt, sie seien die Wächter des Landes."
Anne lächelte bei Emilys Begeisterung, obwohl sie innerlich eine leichte Unruhe spürte. Emily und Heather waren ihr ans Herz gewachsen, aber die Angst, ihr Geheimnis könnte aufgedeckt werden, blieb ständig im Hinterkopf. Doch Emilys Freundlichkeit und Wärme hatten sie seit langem endlich wieder zur Ruhe kommen lassen.
Als sie sich der Moteltür näherten, hörten sie ein merkwürdiges Geräusch von innen. Anne beschlich ein ungutes Gefühl und sie wechselte einen besorgten Blick mit Emily. Diese zögerte keinen Moment, schloss die Tür auf und stieß sie auf.
Sie wurden von einem Anblick empfangen, bei dem Anne das Blut in den Adern gefror.
Heather wurde in eine Ecke gedrängt, ihr Gesicht war blass vor Angst, während ein großer, stämmiger Mann drohend über ihr stand und ihren Arm fest umklammert hielt. Seine Augen brannten vor Wut und er keifte Drohungen in tiefen Tönen.
"Du glaubst, du kannst einfach gehen? Meine Tochter mitnehmen?" knurrte der Mann und zog an Heathers Arm. "Du gehörst mir, Heather. Du und Emily, ihr beide. Wie könnt ihr es wagen zu fliehen?"
"Vater, hör auf!", schrie Emily, ihre Stimme zitterte vor Angst und Wut, als sie vor trat. "Lass sie los!"
Aber der Mann, blind vor Zorn, nahm Emily kaum wahr. Er drehte leicht den Kopf, seine Augen verengten sich, als er Anne wahrnahm, die hinter Emily stand.
"Und wer zum Teufel sind Sie?", forderte er mit giftiger Stimme heraus.
Anne blieb unerschütterlich, ihr Gesichtsausdruck regungslos. "Ich bin Anne, und ich werde nicht zulassen, dass Sie ihnen etwas antun." Der Griff des Mannes an Heather wurde noch stärker.
"Sie haben es gewagt, in die Angelegenheiten meiner Familie einzugreifen?"
Annes Herz hämmerte, als sie spürte, wie ihr Wolf in ihr aufwallte, der Urinstinkt, zu beschützen, kam zum Vorschein. Sie trat vor, bemüht, trotz der wachsenden Spannung Ruhe zu bewahren. "Lassen Sie sie los", sagte Anne bestimmt.
Der Mann verzog sein Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. "Oder was? Was wollen Sie tun, hm?"
Bevor Anne antworten konnte, stürmte der Mann auf sie zu, sein von Wut befeuertes Kraft schubste ihn vorwärts. Doch Anne war vorbereitet. Ihr Wolf kam an die Oberfläche, unkontrollierbar flammten ihre Augen in einem furchteinflößenden goldenen Licht, und sie verwandelte sich halb in ihre Hybridgestalt. Zu Klauen gewordene Hände und von der Verwandlung geschwellte Muskeln umklammerten seinen Hals, ihr Knurren versetzte ihm Schauer. Der Manns Augen weiteten sich im Erkennen der Fehleinschätzung.
Das Bravado des Mannes zerfiel schlagartig und er wankte zurück, das Entsetzen klar auf seinem Gesicht abzulesen. "Was – was sind Sie?"
Doch der Wolf in Anne ließ ihn nicht so einfach davonkommen. Sie bewegte sich blitzschnell und warf ihn mit einem gezielten Schlag zu Boden. Der Kopf des Mannes traf mit einem dumpfen Geräusch auf, und bewusstlos lag er da.Beim Abflauen des Adrenalins wurde Anne bewusst, was sie angerichtet hatte. Sie sah auf, ihre goldenen Augen kehrten zurück zu ihrem gewohnten Grün, während sie sich umdrehte und Emily und Heather erblickte, die sie geschockt anstarrten – ihre Gesichter kreidebleich.
Anne spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Sie hatte nicht beabsichtigt, dass sie sie so sehen – dass sie den Teil von sich offenbarte, den sie so lange verborgen hatte. Schnell verwandelte sie sich zurück in ihre menschliche Form, ihre Atmung war ungleichmäßig, während sie nach den passenden Worten für eine Erklärung suchte.
"Es tut mir leid", stotterte Anne, ihre Stimme war erfüllt von Emotion. "Ich wollte euch nicht ängstigen. Ich werde gehen – ich möchte euch keinen weiteren Kummer bereiten."
Bevor sie sich jedoch abwenden konnte, eilte Emily vorwärts und ergriff ihren Arm. "Nein, Anne, warte!", sagte sie drängend. "Du brauchst nicht fortzugehen."
Anne blinzelte, Wirrwarr und Furcht wirbelten in ihr. "Aber du hast gesehen, was ich bin."
Emily nickte, ihr Griff um Annes Arm verstärkte sich. "Das habe ich. Und es ändert nichts."
Anne studierte Emilys Gesicht, versuchte, das Gesagte zu begreifen. "Wie kannst du das sagen? Du solltest Angst vor mir haben."
Emily schüttelte den Kopf, ihr Gesichtsausdruck wurde sanfter. "Mir ist schon länger bewusst, dass du anders bist, Anne. Deine superschnelle Heilung und der Tag im Wald, ich sah, wie ein verletzter Wolf in den Wald lief, aber als Mama und ich die Stelle erreichten, fanden wir stattdessen dich."
Anne hielt den Atem an. Sie hatte so bedacht und verschlossen gehandelt. Wie hatte Emily das herausgefunden?
Heather, die bisher geschwiegen hatte, trat vor, ihre Augen zeigten eine Mischung aus Dankbarkeit und Verständnis. "Anne, du hast uns heute gerettet. Du hast mein Leben gerettet. Egal was du bist, es spielt keine Rolle. Du gehörst jetzt zur Familie."
Anne war sprachlos, ihr Herz schwoll vor Bewegung an.
"Dein Geheimnis ist bei uns sicher", fügte Emily leise hinzu, ihr Tonfall voller Aufrichtigkeit. "Wir werden dich beschützen, so wie du uns beschützt hast."
Tränen stiegen in Annes Augen, als sie erkannte, dass sie nicht mehr fliehen musste. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich wirklich angenommen und wirklich in Sicherheit. Mit zittrigem Atem nickte sie und ein kleines Lächeln durchbrach das Gefühlschaos in ihr.
"Danke", flüsterte Anne, ihre Stimme war reich an Dankbarkeit.
"Mama, was ist mit Papa?", fragte Emily, während sie den reglosen Körper ihres Vaters ansah.
Heather machte sich daran, ihren Ex-Mann zu kontrollieren. Sie näherte sich vorsichtig der zusammengesunkenen Gestalt, ihr Atem stockte. Sie kniete sich neben ihn und zögerte kurz, bevor sie ihre zitternden Finger an seinen Hals legte, um den Puls zu suchen, der da sein sollte.
Heathers Gesicht wurde fahl, als sie ihre Hand zurückzog, ihre Finger zitterten unkontrolliert. Sie öffnete den Mund, aber anfangs kam kein Laut heraus. Als sie schließlich ihre Stimme wiederfand, war sie kaum mehr als ein Flüstern.
"Er, er ist tot."