Cassandra, die jüngste Prinzessin des Königreichs Speldaria, eilte durch die weitläufigen Korridore des Schlosses ihres Vaters. Sie hielt die Ränder ihres ausgestellten Kleides mit beiden Händen an den Oberschenkeln fest, um nicht zu stolpern.
Sie hatte ein Gerücht vernommen, ein flüchtiges Gerücht. Sie musste Gewissheit erlangen.
Sie stieß die Tür ihres Schlafgemachs auf und betrat den schwach erleuchteten Raum.
Das Licht von draußen schlich herein und ließ ihr hölzernes Pfostenbett sanft erstrahlen.
Ein unwillkürlicher Schrei entwich ihrer Kehle, und ihre Hände schlossen sich über ihrem Mund – denn der Anblick, der sich ihr bot, war alles andere als normal.
An ihr Bett gefesselt mit silbernen Ketten lag ein Wunderwerk an männlicher Stärke und Kraft.
Stämmig, robust, kraftvoll.
Diese Worte schossen Cassandra durch den Kopf, als sie den Mann anstarrte, dessen nackter Oberkörper sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Seine gestählten Muskeln wirkten angespannt unter den Ketten, die ihn festhielten.
Ein lohfarbener Lendenschurz war kunstvoll um seine Taille geschlungen – das einzige Kleidungsstück, das seinen stattlichen Körper bedeckte.
Auf dem Bizeps seines rechten Arms zeigte sich eine schwarze Tätowierung einer Chimäre, die ihren eigenen Schwanz verschlang. Das Wesen hatte Drachenflügel, den Kopf und den Körper eines Löwen und den Schwanz einer Schlange.
Wer war er?
Warum war er an ihr Bett gefesselt?
Seine Augen waren geschlossen, und glänzende braune Strähnen verbargen sie.
Cassandras Herz pochte, als sie vorsichtig einen Schritt näher trat, als fürchte sie, das schlafende Ungeheuer zu wecken.
Ein weiterer Schritt, dann ein behutsamer dritter – nun stand sie direkt vor ihm.
Warum fühlte sie sich so erregt?
Sie nahm einen tiefen Atemzug und roch ihn. Ein Erdgeruch gemischt mit Sand und Salbei. Das Wesen von sonnengebackenem Sand lag intensiv in der Luft um ihn.
Wie konnte sie ihn so riechen?
Warum schien seine Nähe so betörend greifbar zu sein?
Die lächerlichen Gedanken abschüttelnd, setzte Cassandra endlich zur Sprache an.
"Ähm! Wer sind Sie?" fragte sie und versuchte, Autorität in ihre Stimme zu legen, was ihr jedoch misslang.
Sein gesenkter Kopf hob sich langsam als Antwort auf ihre Frage, und sinnliche, goldgetränkte Augen öffneten sich leise und trafen auf ihre violetten.
Ein prickelnder Schauder lief ihr über den Rücken, denn seine scharfen und herausfordernden Augen schienen tief in ihre Seele zu blicken.
Seine stark gebräunte Haut und die mit Goldstaub durchsetzten Augen erinnerten sie an die Wüste.
Ein Wüstenprinz wäre ein treffender Titel für diesen geheimnisvollen Mann.
Eine tiefe Stille entstand, als er sie verführerisch anstarrte. Sein Blick glitt über die sanften Rundungen ihres Halses hinunter zu ihrem üppigen Busen, der in ein einschnürendes Korsett gezwängt war.
Cassandra fühlte sich bloßgestellt und bedeckte schnell sich mit ihren Armen. Ihr Blick folgte langsam seinem unverfrorenen Verhalten.
Die Tür des Zimmers flog erneut auf, und wie ein Sturm aus der Unterwelt glitt Cassandras ältere Schwester Stephanie herein.
Ein konstantes Kichern zeichnete ihr Gesicht.
"Nun, sieh einer an. Sieht so aus, als hätte meine kleine Schwester ihr Geschenk erhalten. Ist er nicht beeindruckend?" Sie leckte sich über ihre scharlachrot bemalten Unterlippen.
"Ist das wieder einer deiner Scherze, Stephanie? Wer ist er? Und warum ist er an mein Bett gefesselt?" forderte Cassandra und sah ihre älteste Schwester mit gerunzelter Stirn an.
"Um deinem eintönigen Leben etwas Farbe zu verleihen. Er ist ein Geschenk vom berüchtigten Gestaltwandler-Alpha von Dusartine. Es heißt, er strebe eine Waffenruhe mit unserem Vater an. Daher das Geschenk. Da du an der Arena teilnehmen wirst", kicherte sie, ihre Stimme bohrte in Cassandras Schläfen. Stephanie trat einen Schritt näher an den gefesselten Mann heran."Arena? Was?" Cassandra schrie ungläubig. Sie hasste die Arena mehr als alles andere auf der Welt.
"Du wirst schon noch lernen, was es damit auf sich hat. Aber ihn an dein Bett zu binden, war meine Idee. Vielleicht kannst du ja endlich was mit einem Wandlersklaven anfangen und jedem etwas Klatsch geben. Mit etwas Glück wird Kommandant Razial deine Verlobung lösen, wenn er erst sieht, wie erbärmlich du bist."
Cassandras Gesicht wurde vor Scham rot, als sie die Worte ihrer Schwester hörte, und sie warf einen Blick zu dem Mann, der Stephanie mit einem neu entdeckten Abscheu musterte. Dieser Blick war ganz anders als der, den er ihr noch vor kurzem geschenkt hatte.
"Du hast wirklich keine Scham, ihn mit Silberketten zu fesseln, wo du doch weißt, dass sie für ihn tötlich sind und ihm furchtbare Schmerzen bereiten.", wies sie sie zurecht.
Stephanie warf den Kopf zurück und lachte über ihre Worte.
"Du glaubst doch nicht wirklich, dass es mir um solche Niederträchtigkeiten geht? Ich bin nicht du, also versuche doch, ihn selbst zu befreien. Es wird urkomisch sein, dich dabei zu beobachten, wie du das ohne Magie schaffst — und ich habe das Personal angewiesen, dir nicht zu helfen."
Cassandra schüttelte den Kopf, aber sie war keineswegs überrascht. Stephanie genoss es, andere zu quälen, vor allem jene, die schwächer waren als sie.
"Obendrein wird sich dein Verlobter sicherlich freuen, zu hören, dass du einen neuen Schönling hast", kicherte Stephanie erneut höhnisch, und ihre Stimme nagte an Cassandras Nerven.
"Du bist verachtenswert, Stephanie." Cassandras abschätziger Ton kam bei ihrer Schwester nicht gut an.
Ihr gesamtes trügerisches Fröhlichkeitsgebaren verschwand im Nu. Alles an ihr wurde düster, als ein Schatten aus ihr hervortrat, eine Verlängerung ihrer selbst, doch dunkel und unheimlich, mit Dolchen als Fingern.
Bevor Cassandra auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, schlug Stephanie ihr ins Gesicht. Die messerscharfen Klingen schnitten ihre Wange und den oberen Teil ihrer Lippe auf. Sie schützte ihr Gesicht mit ihrer Hand.
Cassandra wimmerte, als Blut aus der frischen Wunde sickerte, doch lauter als ihr Wimmern war das warnende Knurren, das aus der stämmigen Brust des Mannes drang. Seine honigfarbenen Augen waren pechschwarz geworden, wie bodenlose Abgründe der Hölle.
"Ah, sieh mal einer an. Zwei elende Gestalten, die füreinander sorgen. Er kümmert sich schon um dich", spottete Stephanie, während ihr hohles Lachen im Raum widerhallte und der Schatten sich zurückzog, sodass ihre heitere Fassade wieder zum Vorschein kam.
Cassandra hielt ihre blutende Wange fest, übte Druck aus, um die Blutung zu verringern. Stephanie strich sich die Haare zurück und verließ, immer noch spöttisch lächelnd, das Zimmer.
Der Mann in Ketten beobachtete ihre sich entfernende Gestalt mit augenscheinlicher Verachtung. Cassandra wandte sich an ihn.
Wie konnte sie ihn aus diesen Ketten befreien, die seine Haut verbrennen mussten?
"Wie kriege ich dich hier raus?"
Vergesslich ihrer blutenden Wange näherte sie sich dem Mann. Seine Augen folgten ihr, als sie die Metallfesseln an seinen breiten Handgelenken berührte und zu ziehen versuchte.
Der Duft von alten Büchern und Salbei traf sie in einer Welle – der starke Geruch dieses bulligen Mannes. Sie hielt einen Moment mit dem Atmen inne und konzentrierte sich.
Sie musste ihn befreien und aus ihrem Zimmer bringen, bevor ihr Verlobter einen Mann in ihrem Zimmer fand und einen weiteren Grund bekam, sie nicht zu mögen.
Ihre Wangen waren rosafarben und ihre Lippen fest zusammengepresst, als sie mit aller Kraft, die ihr zarter Körper aufbringen konnte, zog. Aber die Fesseln bewegten sich nicht.
Der schelmische Mann beobachtete sie, als versuchte er bei ihrem vergeblichen Versuch, nicht zu grinsen. Seine Augenbrauen waren leicht erhoben, als er sah, wie sie keuchte und stöhnte und die oberen Wölbungen ihrer Brust sich bei ihrem Zug nach oben wölbten.
"Uggh! Es hat keinen Sinn, ich werde Werkzeug holen. Warte hier", sagte sie schließlich, gab auf und trat zurück.
In dem Moment, als sie herumwirbelte, um den Raum zu verlassen, hörte sie hinter sich ein klirrendes Geräusch.
Sie drehte sich um und keuchte, als die Ketten, die ihn festhielten, zu Boden fielen und der grobschlächtige Mann sich von ihrem Bett erhob, befreit von allen Fesseln.
Er war so groß und breit, dass ihr Zimmer in seiner gewaltigen Präsenz fast zu schrumpfen schien.
Ihr Erstaunen verwandelte sich in einen misstrauischen Blick, als sie sich fragte:
'Wie zum Teufel hat er das gemacht? Und warum nicht schon früher? Brauchte er etwa auch sein Spektakel?'
Sie wollte gerade sprechen, als ein Bote an ihre Tür klopfte und verkündete:
"Lady Cassandra, Euer Vater verlangt Eure Anwesenheit. Eilt Euch."
Perfekt, jetzt musste sie sich ihrem rücksichtslosen Vater stellen.
Was wollte er jetzt?'