Meine Faust landet mit voller Kraft in seinem Gesicht, daraufhin lässt er mich kurz los. Ich ergreife sofort die Chance und ich schlage meine Beine an die Seiten des Rosses, um es anzutreiben. Der braune Hengst macht einen überraschten Sprung nach vorne und fängt an zu laufen. Panik ergreift mich. Ich habe nur einen Gedanken: Schnell weg von diesen zwei widerlichen Wachen.
"Bleib stehen du Miststück!", schreit mir Harald hinterher. Ein Blick über meine Schulter verrät mir, dass er wieder auf sein Pferd springt, um mir zu folgen. Ich reite immer schneller und schneller. Nur weg von ihm.
Aber wohin?
Die Gegend ist mir völlig fremd. Meine Hände umfassen den Zügel so fest, dass es schon schmerzt. In wenigen Sekunden bin ich aus dem Dorf und eine endlose weiße Wüste aus Schnee und Eis erstreckt sich vor mir. Kalter Wind schlägt in mein Gesicht als mir meine Kapuze vom Kopf rutscht. Instinktiv verlasse ich den breiten, vom Schnee befreiten, Weg und reite in dichteren Wald auf einen kleinen Trampelpfad entlang. Mit der Hoffnung das sie mich aus den Augen verlieren.
Was sich als Fehler herausstellt, denn der Weg endet plötzlich und eine dicke Schneedecke umgibt mich und das Pferd, dass im schnellem Galopp über einen zugeschneiten nicht mehr sichtbaren Graben fällt. Der braune Hengst verlieht den Boden unter den Füßen und fällt in den tiefen Schnee. Ich höre nur noch den verängstigten wiehernden Schrei ehe ich wegen dem abrupten Stopp über den Kopf des Pferdes nach vorne fliege und bäuchlings im kalten Schnee lande. Immerhin hat dieser meinen Fall abgefedert.
Mühsam rapple ich mich auf. Meine Beine verschwinden fast komplett in der weißen Schneedecke.
Dann hörte ich sie auch schon kommen. Die beiden Wachen haben mich verfolgt und werden mich in wenigen Sekunden erreichen. Mein Reittier rappelt sich schnell wieder auf und ergreift die Flucht.
Hilflos sehe ich dem Pferd hinterher. Der Schnee ist viel zu hoch für mich um davon zu laufen. Eine Flucht wäre zwecklos, man kommt hier nur mühsam und langsam vorwärts.
Verzweifelt suche ich nach einer Waffe, mit der ich mich verteidigen könnte, aber alle Stöcke und Steine, die dafür infrage kommen, würden sind unter dem Schnee begraben.
"Du Bonarische Hure! Was bildest du dir ein?", schreit Harald mir entgegen und ist nur noch wenige Meter von mir entfernt. Er springt vom Pferd und stapft zornig auf mich zu. Sven bleibt auf seinem Pferd sitzen und sieht ihm zu. Mein Fluchtinstinkt setzt ein, als er fast vor mir steht und ich versuche wegzurennen.
Seine Hand greift nach meinem geflochtenen Zopf und reißt mit voller Wucht daran. Mein Kopf schnellt nach hinten und mit ihm mein ganzer Körper. Ein lauter Schrei verlässt meine Kehle.
"Der König hat dich offenbar noch nicht oft genug geschlagen."
"Harald, fessel sie und lass uns wieder zurückreiten bevor der Prinz etwas merkt.", Sven blickt sich besorgt um. Bleibt aber auf seinem Pferd sitzen.
"Oh nein, zuerst werd ich der kleinen Valeria eine Strafe verpassen. Das bist du doch gewohnt, oder? Ich hab auch schon eine schöne Idee. Keine Sorge es wird dir gefallen.", widerlich grinst er mich an. Ich liege vor ihm im kalten Schnee und versuche wieder auf die Beine zu kommen. Doch Harald erledigt das für mich indem er mich grob an einem Arm packt und mich zu sich hoch zieht.
"Lass mich los! Hilfe! Hilfe!", rufe ich verzweifelt und trete und schlage um mich, was keinen Zweck hat, denn ich bin einfach zu schwach. Meine Schläge stoßen nur auf seine harte Rüstung und stören ihn kein Stück.
"Du hast ein hübsches Gesicht und ich würde nur ungern dir die Nase brechen also halt endlich still."
Haralds Hand umfasst fest meinen Hals. Angestrengt röchle ich nach Luft. Schwarze Flecken trüben mein Blickfeld. Meine Schläge werden immer leichter.
Ich kann nicht mehr... Luft...
Ich brauche Luft...
Alle Stimmen um mich hallen nur noch gedämpft durch meinen Kopf.
„Mein Prinz!", sagt Sven hinter uns. Erschrocken sieht Harald über seine Schulter.
"Mein Prinz! Ich kann das erklären...", fängt Harald an und dreht sich halb zur Person um, die gerade mit seinem schwarzen Pferd angeritten kommt. Haralds Augen weiten sich vor Angst. Das schwarze Tier bleibt abrupt stehen und tritt nervös auf der Stelle, während sein Reiter zu Boden springt und mit großen Schritten auf uns zukommt.
Sein schwarzer Pelzmantel schleift über den weißen Schnee. Mir wird schwarz vor Augen, wegen des Sauerstoffmangels, der feste Griff um meine Kehle wird aber nicht leichter.
In seinem Gesicht ist keine Gefühlsregung aus Entschlossenheit zu sehen. Als er bei uns ankommt, verschwindet er aus meinem Blickfeld, weil Harald zwischen uns ist und mir die Sicht versperrt. Röchelnd versuche ich Luft zu bekommen, als ich merke, dass ich langsam das Bewusstsein verliere.
„Valeria... sie... die Prinzessin ist geflohen. Ich habe sie wieder gefangen, euer Gnaden.", stottert der kräftige Ritter, der mich langsam ersticken lässt. Ein dumpfes Geräusch ertönt und Harald dreht sich wieder zu mir um. Scharf ziehe ich die Luft ein bei seinem Anblick, sein fester Griff wird lockerer und lässt meinen Hals dann komplett los. Meine Lungen schnappen sehnsüchtig nach Luft. Ich knie mich hustend in den kalten Schnee und kann nicht glauben, wer vor mir liegt. Aus seinem Auge steht ein silberner Dolch hervor. Eldors silberner Dolch.
Der Schnee vor mir färbt sich rot, als aus seinem Auge über sein ganzes Gesicht sein Blut zu Boden fließt. Ein letzter schmerzvoller röchelnder Ton kommt über seine Lippen, bevor sein Körper erschlafft. Reglos liegt Haralds Körper vor mir im Schnee. Hinter ihm steht Eldor mit einem wütenden Gesichtsausdruck.
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich zu ihm hoch.
„Euer Gnaden ich habe versucht ihn aufzuhalten ich habe es ihm gesagt, dass...", versucht Sven sich zu erklären. Eldor hebt seine Hand was ihn verstummen lässt.
„Ja, ich habe gesehen, mit welch einer Überzeugung du helfen wolltest. Du hast dich ja richtig ins Zeug gelegt.", sagt Eldor sarkastisch.
„Bist du verletzt?", fragt er stattdessen mich und ignoriert Svens Erklärungsversuche.
Er sieht mich genau an mustert mich von oben bis unten. Mein Gesicht ist kreide bleich, aber ich kann wieder atmen, auch, wenn mein Hals brennt. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen, um mich wieder zu beruhigen, aber die Leiche vor mir und der rot gefärbte Schnee machen es mir schwer.
Es ist vorbei.
Ich bin wieder sicher.
Es ist vorbei. Sage ich mir in Gedanken.
"Die Wache.. er wollte mich anfassen.", stoße ich hervor und keuche immer noch leicht. Eldor kniet sich vor mich hin und dreht Harald auf den Rücken. Der tote Körper wirkt unecht wie eine Puppe, leblos. Der glänzende Dolch steckt immer noch in seinem Auge. Das andere Auge ist weit geöffnet und blickt glasig ins Nichts. Eldor greift nach seinem Dolch und zieht ihn ruckartig heraus. Im Schnee putzt er ihn ab und steckt die Mordwaffe wieder in die freie Stelle an seinem Brustgurt. Als ich ihn beobachtet, wie er da ohne mit der Wimper zu zucken, einfach so jemanden tötet und seine Leiche begutachtet, kommt in mir wieder die Wut, die ich auf ihn habe hoch. Genauso kaltblütig hat dieses Monster auch meinen Bruder getötet.
"So eine Sauerei. Sven kümmere dich um ihn und reite dann zurück zur Burg. Ich will dich nicht mehr sehen."
"Aber eure Hoheit der König hat uns befohlen euch bis zur Kaserne zu begleiten."
"Ja und einer von euch ist jetzt Tod. Und du folgst ihm gleich ins Jenseits, wenn du nicht sofort meinen Befehl folgst."
Sven verbeugt sich steif und widerspricht nicht noch einmal. Er springt von seinem Ross um sich um Harald zu kümmern, was auch immer das heißt.
"Wenn du bereit bist, können wir weiter.", meint der Prinz zu mir und deutet auf die Pferde. Mein Pferd ist etwas abseits des ganzen Geschehens stehen geblieben. Zögernd stehe ich auf. Klopfe mir den Schnee größtenteils ab und atme einmal tief durch. Die ganze Zeit über lässt mich Eldor nicht aus den Augen. Als ich versuche den ersten Schritt zu machen geben meine Beine unter mir nach. Kraft los sacke ich wieder zu Boden. Wären da nicht Eldors starke Arme gewesen, die mich auffangen.
„Ich hab dich.", sagt er ganz nah an meinen Ohr. Sein Atem streicht meine Wange. Schnell reiße ich mich aus seinen Armen los.
„Fass mich nicht an.", wütend drehe ich mich zu ihm um und funkle ihn zornig an. Langsam wate ich weiter durch den unberührten Schnee, um mein Pferd zu erreichen. Mein Puls rast.
Gekonnt schwinge ich mich in den Sattel, um endlich komplett aus dem nassen kalten Schnee zu kommen und klopfe meine Füße frei.
Eldor sitzt auch schon auf seinem Pferd und reitet zu mir.
"Warum hast du mich mit diesen widerlichen Bastarden allein gelassen? Du kennst sie doch. Du musst doch wissen wie sie sind. Das sie mich hassen. Er wollte mich...", werfe ich ihm wütend vor und stoppe, weil ich es nicht aussprechen kann. Es sammeln sich Tränen in meinen Augen als ich begreife wie viel Glück ich gerade gehabt hatte. Gedanken prasseln auf mich nieder.
"Ich weiß ich bin dir völlig egal, aber warum? Was hab ich dir getan dass du mich so hasst? Du hast mein Leben zerstört, meine Familie... Was willst du mir noch nehmen? Meine Tugend? War das alles dein Plan? Hast du mich deswegen alleingelassen?"
Kurz sehen mich seine eisblauen Augen an, in denen so etwas wie reue und trauer aufblitzt, dann sieht er schnell in die ferne vor uns.
"Es tut mir leid. Ich hatte etwas wichtiges zu tun. Ich dachte nicht das sie so was unternehmen werden solange ich in der Nähe bin. Das war ein Fehler.", sagt er leise, sieht mich dabei aber nicht an.
Wütend wische ich mir meine Tränen aus dem Gesicht.
"Es war weder mein Plan noch ist es meine Absicht dir zu Schaden. Was hätte ich davon?", meint der weiter.
"Es bereitet dir doch Freude Menschen leid zuzufügen. Und zu töten, wie gerade eben!", schreie ich ihn nun an, denn die Wut in mir ist immer noch da.
"Also hätte ich diesen Hurensohn laufen lassen sollen? Hätte er noch weiter unschuldige Frauen vergewaltigen und misshandeln sollen?" Wütend sieht er mich an und deutet in Richtung Sven der gerade versucht die Leiche auf sein Pferd zu hieven.
Ich wollte gerade Luft holen und ihm wieder etwas an dem Kopf werfen aber es hatte keinen Sinn. Es stimmt was er sagt. Irgendwie hat der das Richtige getan. Ich nehme meine Zügel fest in die Hand. So fest dass meine Knöchel weiß hervor treten. Wie sollte er wissen was Harald vor hatte? Er hatte den Tod verdient. Vielleicht war dieser schnelle Tod sogar noch zu gut für ihn. Wer weiß wie oft er Menschen schon so etwas angetan hat. Der Zorn in mir verblasst langsam und ich atme tief durch. Mein beschleunigter Puls beruhigt sich etwas. Es hat keinen Sinn hier jetzt weiter zu streiten. Eldor hat mich gerettet. Wieso weiß ich nicht, aber es kann mir egal sein. Ich bin am Leben und kann weiter bei diesem dämlichen Auslese-Ritual mitmachen und für unsere Freiheit kämpfen. Für mich und meine Schwester.
"Gut du hast recht. Reiten wir weiter bevor wir noch erfrieren."
Überrascht zieht Eldor seine Augenbrauen hoch. Der Ärger verschwindet aus seinem Gesicht. Nach einem leichten nicken nimmt er die Zügel in die Hand und reitet los und ich folge ihm stumm.