Sie gingen an Glasgefäßen vorbei, die seltsame Kreaturen und mit bizarren Wucherungen überzogene menschliche Organe beinhalteten, und erreichten einen separaten Raum. Martin senkte den Kopf, um seine Iris überprüfen zu lassen, und Moss sagte: "Laut Ihrer Berechtigung haben Sie drei Minuten Zeit für den Rundgang und die Instruktion."
Die Metalltür öffnete sich und die intensiv kalte Luft, die herausströmte, war weit stärker als in dem Raum, der die parasitäre Hydra beherbergte. Selbst in den dicken Schutzanzügen spürte er die durchdringende Kälte.
Als Jonathan den Raum betrat, war er wie gelähmt. Als er aufschaute, kam er sich vor, als befände er sich in einem Unterwassertunnel eines Aquariums, durch dessen Glaswände er schwimmende Fische beobachten konnte. Doch dies war kein Aquarium, sondern ein großes Eishaus, gefüllt mit klarem Eis.
In einem massiven und transparenten Eisblock erstreckte ein außerirdisches Wesen, das einem Oktopus ähnelte, seine Tentakel. Es war so riesig, dass es beinahe das gesamte Eishaus ausfüllte. Seine gelben Augen hatten schmale, horizontale Pupillen, und die Saugnäpfe an seinen mächtigen Tentakeln waren sogar größer als ein Fußball.
Das Exemplar war unglaublich gut konserviert, fast lebensecht. Als Jonathan von seinen gelben Augen angestarrt wurde, spürte er Herzklopfen. Leider gab es von diesem Wesen nur die Hälfte. Sie konnten nur mutmaßen, wie es lebend durch diesen halben Körper aussah.
"Krake", sagte Martin. "Ziemlich schockierend, nicht wahr?"
"Krake?" Jonathan wurde durch den bekannten Namen aus seinen Gedanken gerissen.
"In den Volkslegenden gibt es das Seeungeheuer Krake. Früher, als die Technik noch nicht so weit entwickelt war, glaubten die Menschen, in der Tiefsee gäbe es ein Monster namens Krake, welches Schiffe unter Wasser ziehen und die Menschen an Bord fressen würde", erklärte Martin. "Diese Legende entspricht der Wahrheit. Das riesige Wesen, das als Krake bekannt ist, ist tatsächlich ein Xenobiotikum. Doch heutzutage glauben die Menschen nicht mehr an die Existenz dieser Seeungeheuer. Die Ermittlungsbehörde eliminiert heimlich diese Xenobiotika, um die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft aufrechtzuerhalten."
Der Krake und das Krakenmonster... War der Name des Frachtschiffs, das die mysteriöse Ladung transportierte, von dieser Volkssage abgeleitet?
"Wie hat die Ermittlungsbehörde es geschafft, ein so furchteinflößendes Xenobiotikum wie den Kraken zu beseitigen?" fragte Jonathan.
Martin erklärte: "Die Ermittlungsbehörde hat diesen Kraken nicht getötet. Er ist eines natürlichen Todes gestorben und wurde angespült. Kraken müssen sich nicht an Menschen parasitieren. Sie können selbstständig jagen, obwohl sie manchmal auch Menschen attackieren."
Die Zeit war um und Martin führte Jonathan aus dem Eishaus hinaus.
"Bewahrt die Ermittlungsbehörde Exemplare von Xenobiotika nur für Lehrzwecke und Beobachtungen auf?" wollte Jonathan wissen. "Es scheint sehr kostspielig zu sein. Temperatur- und Feuchtigkeitskontrolle sowie Kühlen mit flüssigem Stickstoff müssen rund um die Uhr laufen, was viele Ressourcen in Anspruch nimmt. Könnten Bilder und holographische Projektionen nicht fast denselben Lehrzweck erfüllen?"
"Es ist tatsächlich sehr teuer und die Technik könnte die Lehre durchaus ergänzen", antwortete Martin. "Natürlich dient die Konservierung der Kadaver von Xenobiotika durch die Ermittlungsabteilung nicht nur Lehrzwecken."
Jonathan überlegte: "Das muss auch Forschungszwecken dienen. Captain, Sie erwähnten die Schwarzmeer-Akademie. Erforscht die Schwarzmeer-Akademie ebenfalls Xenobiotika?"
"Ja, genau." Martin nickte. "Wir haben die Besichtigung der Exemplargalerie im sechsten Untergeschoss abgeschlossen. Als nächstes begeben wir uns zum fünften Untergeschoss. Dort gibt es noch ein paar Dinge, die du wissen solltest."
Sie verließen die kalte Exemplargalerie, zogen sich in der Umkleidekabine die Schutzkleidung aus, desinfizierten sich erneut und kehrten zum Aufzug zurück.
"Moss, fünftes Untergeschoss", sagte Martin und warf einen Blick auf die Aufzugsuhr. "Wir haben noch genügend Zeit."
Moss antwortete: "Die Stockwerksperre wurde aufgehoben."Das Aufzug ging nach oben, und die Tür öffnete sich innerhalb weniger Sekunden.
"Brauchen wir diesmal Schutzanzüge?" fragte Jonathan. "Die sind wirklich schwer anzuziehen."
Martin antwortete: "Nicht diesmal, aber ihr müsst einen sterilen, staubdichten Anzug anlegen."
Diesmal war der Prozess viel einfacher. Nach der Desinfektion und dem Anziehen des staubdichten Anzugs mussten sie nur noch ihre Haare gewissenhaft in die Haube stopfen und diese befestigen.
Im Gegensatz zur stillen Exponatsgalerie im sechsten Untergeschoss herrschte im fünften Stockwerk reges Treiben. Durch das Glasfenster konnten sie Menschen in weißer Arbeitskleidung sehen, die geschäftig an ihren Schreibtischen arbeiteten.
"Was ist das hier?" fragte Jonathan überrascht.
"Das ist ein Labor, unser Labor für die Untersuchung von Xenobiotika-Kreaturen", erläuterte Martin knapp. "Die Untersuchungsabteilung arbeitet mit vielen Einrichtungen zusammen wie dem biotechnologischen Labor der Schwarzmeerakademie, dem Zellforschungsinstitut der Bundesregierung und Forschungsabteilungen einiger privater Konsortien. Sie alle haben ein gemeinsames Forschungsthema: Xenobiotika-Kreaturen."
Jonathan blickte sich im Labor um und fragte: "Forschen sie, wie man mit ihnen umgeht?"
"Es geht um mehr als das", erwiderte Martin mit Nachdruck. "Es geht darum, Nutzen aus ihnen zu ziehen."
"Nutzen ziehen?" Jonathan drehte sich zu Martin um.
Martin führte ihn weiter ins Labor und sagte: "Du wirst gleich verstehen."
Ein offensichtlich älterer Forscher erblickte Martin: "Hast du einen Neuling dabei?"
"Ja, wir brauchen nur zehn Minuten", antwortete Martin höflich.
"Nicht schlecht", sagte der Forscher mit einem Blick auf Jonathan. "Es ist eine Weile her, seit wir einen Neuling hatten. Gib dein Bestes."
Martin nahm ein hellblaues Reagenzglas vom Tisch, während der Forscher sich seiner Arbeit zuwandte.
"Das ist das Gift des Rotdornjägers in unreiner Form. Es ist hochätzend und kann Metalle auflösen", sagte er, während er Handschuhe anzog und ein Eisenstück hochhob. Er träufelte die Flüssigkeit aus der Flasche auf das Eisen.
Mit einem zischenden Geräusch entstand ein kleines, rundes Loch in dem einen Millimeter dicken Eisenstück.
"Die Jagd auf Xenobiotika ist äußerst gefährlich. Unsere kugelsicheren Kampfanzüge können weder dem Druck der Tentakel der parasitären Hydras noch der Korrosion durch das Gift des Rotdornjägers widerstehen", erklärte Martin. "Es sind gefährliche Spezies, doch bergen ihre Körper auch verborgene Schätze."
"Parasitäre Hydras und Rotdornjäger sind beide darauf angewiesen, Menschen zu parasitieren, um zu wachsen und sich fortzupflanzen. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie befallen nur lebende Wesen. Egal, wie entstellt oder geistlos die befallenen Menschen auch sein mögen, sie bleiben am Leben, bis ihre Nährstoffe vollständig aufgebraucht sind. Selbst wenn ihre Körper zu Skeletten verkommen und sich kaum noch regen können, leben sie noch", legte Martin das hellblaue Reagenzglas ab. "Sie scheiden eine besondere Substanz aus, die das Leben des Wirtes erhält und sein Fortbestehen sichert."
"Wie Blutegel?" Jonathan folgte Martins Gedanken: "Blutegel geben Gerinnungshemmer ab, wenn sie menschliches Blut saugen. Auch wenn ihr Blutsaugen dem Menschen schadet, so können doch die Gerinnungshemmer medizinisch genutzt werden.""Ja, genau das versuche ich zu sagen", lächelte Martin. "Es sind erschreckende Kreaturen, aber sie bergen auch einen Wert. Wenn wir herausfinden könnten, welche Bestandteile ihr Sekret hat und es künstlich herstellen könnten, würde das zu bedeutenden Durchbrüchen in der medizinischen Forschung führen."
"Haben wir diesbezüglich schon Fortschritte gemacht?", fragte Jonathan neugierig.
"Aber sicher." Martin ging zu einem anderen Tisch und holte zwei Reagenzgläser hervor, "Dies ist eine der Substanzen, die aus dem Körper der parasitären Hydra gewonnen wurde. Sie wirkt stark entzündungshemmend und schmerzlindernd. Und dieses Reagenz kann die Wundheilung beschleunigen und die Zellteilung fördern. Beide Reagenzien werden in der Untersuchungsabteilung häufig verwendet."
Jonathan rief aus: "Wurde mir diese Art Medizin verabreicht, als ich jene Kopfoperation hatte? Die Wunden heilten erstaunlich schnell."
"Das ist sehr wahrscheinlich", bestätigte Martin, "es ist äußerst wirksam. Die Zahl der Verletzungen in unserem Außenteam hat sich in den letzten zwei Jahren deutlich verringert. Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse verdienen Anerkennung. Die Forscher versuchen, noch mehr Nutzen aus den Xenobiotiken zu ziehen."
"Liegt der Hauptnutzen der Xenobiotika-Forschung im medizinischen Bereich?" erkundigte sich Jonathan. "Gibt es noch weitere Anwendungsmöglichkeiten?"
"Sie haben drei Arten von Nutzen. Erstens im medizinischen Bereich, zweitens im Bereich der Materialwissenschaften", erläuterte Martin. "Die Materialwissenschaft ist kein Forschungsthema des Labors unserer Untersuchungsabteilung, es wird an Biotechnologieunternehmen extern vergeben. Wir haben aber auch einige Proben hier im Labor."
Martin nahm ein Stück tiefschwarzes Tuch, das auf einem Schreibtisch in der Ecke lag und sagte: "Versuch mal, daran zu ziehen, Jonathan."
Jonathan ergriff das Tuch und zog daran. Das kurze Stück Stoff dehnte sich urplötzlich um ein Vielfaches seiner ursprünglichen Länge. Er trat einen Schritt zurück, um mehr Fläche zu schaffen, und der Stoff schien unbegrenzt dehnbar zu sein.
"Dies ist ein neuartiges biologisches Material, das aus dem Körper eines Xenobiotikums mit Tentakeln extrahiert wurde. Es kann noch nicht in großer Menge produziert werden, aber es ist außergewöhnlich elastisch und unempfindlich gegenüber scharfen Gegenständen", sagte Martin und fuhr mit einem kleinen Messer, das er für Experimente benutzte, über das Tuch. Es hinterließ keine Spur, und als er mit der Messerspitze nach unten stach, blieb der Stoff heil.
"Es scheint, als wären das gerade einmal die ersten Forschungsergebnisse, die wir zu Gesicht bekommen", sagte Jonathan.
"Ja, das ist erst der Anfang. Die Forschungseinrichtungen, die mit uns zusammenarbeiten, haben noch weit umfangreichere wissenschaftliche Erkenntnisse", bemerkte Martin. "Jonathan, du musst dich dran erinnern, unser Hauptziel ist es, die Xenobiotika auszurotten, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, nicht die Xenobiotika zu fangen, um Profit damit zu machen. Neue Medikamente und neue Materialien sind nur ein Nebenprodukt. Im Vergleich zu den Gefahren sind unsere Gewinne verschwindend gering... Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Teammitglieder und Kollegen in der Schlacht gefallen sind. Die Untersuchungsabteilung veranstaltet jedes Jahr eine Gedenkfeier, an der ich jedes Mal teilnehme."
"Ich werde alles daransetzen, um zu überleben", sagte Jonathan ruhig.
Er war sich bereits im Klaren darüber, was auf dem Spiel stand. Am Tag, bevor er in die zweite Welt überging, hatte Jonathan schon beschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zu überleben und alle schlechten Enden zu vermeiden, um das Happy End zu erreichen.
"Captain, Sie sprachen eben davon, dass die Xenobiotika drei Verwendungszwecke haben. Was ist der dritte?", fragte er.
Martin klopfte Jonathan auf die Schulter und sagte: "Folge mir ins dritte Untergeschoss, dann wirst du es erfahren."
"Das dritte Untergeschoss? Ich erinnere mich, das ist, wo die temporären Zellen für die Häftlinge sind, die auf ihren Prozess warten", erwiderte Jonathan, während er ihm folgte.
"Das dritte Untergeschoss ist in der Tat ein Bereich für vorübergehende Inhaftierungen, aber wahrscheinlich weißt du nicht, dass in diesen Zellen nicht nur gewöhnliche Kriminelle sitzen", erklärte Martin. "Das dritte Untergeschoss ist der Ort mit den strengsten Sicherheitsvorkehrungen im gesamten Untersuchungsgebäude. Es ist in zwei Bereiche aufgeteilt, den Ost- und den Westbereich. Im Osten sind gewöhnliche Kriminelle untergebracht, im Westen jedoch nicht."
Nachdem sie ihre Schutzanzüge abgelegt hatten, nahmen sie erneut den Fahrstuhl.
Jonathan hielt seine Neugier zurück und wartete darauf, dass die Antwort enthüllt wurde.Das Schwierige kommt immer zum Schluss, dachte er. Er hatte über das Xenobiotika-Wesen gelernt und seine Gefahr sowie seinen Wert erkannt, also was kam als Nächstes? Was erwartete ihn nun?
Die Aufzugstüren öffneten sich, und zu beiden Seiten standen bewaffnete Sicherheitskräfte.
Nachdem er aus dem Aufzug ausgestiegen war, gab es links und rechts Wege. Jonathan sah sich um; schwere Metalltüren versperrten beide Bereiche. Martin führte Jonathan nach rechts und scannte dann dessen Iris.
Die Tür dröhnte beim Hochfahren. Dieses Mal unterschied sich das Geräusch der sich öffnenden Metalltür von den vorherigen. Die Metalltüren in den anderen Etagen öffneten sich geräuschlos und sanft, diese hier jedoch verursachte Krach. Bei näherer Betrachtung war die Metalltür des dritten Untergeschosses über dreißig Zentimeter dick und musste tonnenschwer sein.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren tatsächlich streng.
Das Geräusch von Martins Schritten hallte im leeren Korridor wider. Die Zellen zu beiden Seiten des Ganges waren nicht von Eisenstangen, sondern von kugelsicherem Glas blockiert. Viele Zellen waren leer, und es schien nur wenige Gefangene im westlichen Bereich zu geben.
"Vor ein paar Tagen kam ein neuer Gefangener hierher. Sein Zustand ist sehr schlecht, er könnte in ein paar Tagen sterben. Die Ärzte können ihn nicht retten", sagte Martin, "ich werde dich zu ihm bringen."
Dieser Gefangene musste etwas Besonderes sein. So urteilte Jonathan.
Sie hatten noch nicht lange gegangen, als Martin innehielt.
Er drehte sich um und deutete auf die Zelle, um Jonathan zu signalisieren, dass er hinübersehen sollte.
"Hiss." Jonathan konnte nicht anders, als beim Anblick des Gefangenen zurückzuzucken.
Der männliche Gefangene lag auf dem Boden und starrte regungslos an die Zellendecke. Die Haut, die er entblößte, war von einer schrecklichen gräulich-blauen Farbe. Seine Fingerknöchel waren verdreht hervorstehend, und seine Finger wirkten unglaublich lang und schlaff, fast wie Tentakel! Die Tentakel einer Xenobiotika-Kreatur!
Plötzlich hustete der Gefangene und würgte einen Klumpen Fleisch heraus, der sich leicht am Boden bewegte.
"Ist er von einem Ungeheuer befallen?" fragte Jonathan angeekelt.
Obwohl er zum Frühstück nicht viel gegessen hatte, konnte er solche immer wiederkehrenden visuellen Schocks nicht ertragen. Er stand kurz davor, sich zu übergeben.
"Nein, er ist nicht von einem Monster befallen", sagte Martin ruhig, "er hat sich selbst in ein Monster verwandelt."
Er blickte Jonathan an: "Das ist der dritte Fall des Einsatzes von außerirdischen Kreaturen, über den ich dir erzählen wollte."
"Einige illegale, geheime religiöse Gruppierungen sammeln und reinigen das Blut von Xenobiotika-Kreaturen zu einem bösen Zweck. Sie trinken dieses Blut, um daraus Macht zu schöpfen."
"Sie bezeichnen die Xenobiotika-Kreaturen als Überbleibsel uralter Götter. Das extrahierte Blut dieser Wesen nennen sie 'Götterblut', und die Menschen, die durch dieses 'Götterblut' übernatürliche Kräfte erlangen, bezeichnen wir als 'Heterobluts'."