Ren öffnete erneut sein abgenutztes Buch, seine Finger fuhren über die Illustrationen der Drachen.
Laut dem Buch hatte der Wanderkönig neben seiner Medizin viele Informationen gefunden...
Es war nicht irgendeine Medizin, die Ren wollte, sie befand sich im Herzen des Drachenterritoriums, wo Mana so dicht floss, dass man es in der Luft sehen konnte.
Der Wanderkönig war monatelang gereist und hatte die Länder jedes Drachenfürsten durchquert.
Der Rote Drache, dessen Schuppen wie die Wüstensonne brannten, herrschte über alle Feuerbestien und Reptilien. Unter seiner Herrschaft konnten selbst winzige Eidechsen Flammen speien.
Der Blaue Drache regierte in den Meerestiefen mit seinen majestätischen Flossen und glänzenden Hörnern, wo ihm jedes Meeresgeschöpf die Treue schwor.
Der Grüne Drache, bedeckt von einer dicken Vegetationsschicht, war der Herr der tiefen Wälder, wo jedes Tier und jede Pflanze nach seinem Willen tanzte.
In den ewigen Himmeln befehligte der Weiße Drache alle fliegenden Kreaturen, während der Schwarze Drache über die Bestien der Nacht und des Schattens herrschte.
Das Buch zeigte eine besonders detaillierte Illustration des Gelenkigen Drachen, dessen Gebiete von riesigen Insekten und Kreaturen mit Außenskeletten bevölkert waren.
Jede Evolutionslinie, jede Eigelb-Farbe wurde von einem Drachen repräsentiert. Gelehrte verneinten die Korrelation zwischen Drachen und Eigelb-Farben aufgrund von Variationen, die von logischen Zweigen in den Ei-Ergebnissen abwichen.
Aber das war kein relevantes Wissen für das Kind.
Ren hielt bei einer Seite inne, die ihn schon immer fasziniert hatte: der Drache des Verfalls, Herr über Pilze, Sporen und alle Kreaturen, die sich von Verwesung ernährten.
Er herrschte über allem, ernährte und erschuf alle Kreaturen seiner Evolutionslinie.
"Zumindest respektieren Drachen ihre Untertanen", murmelte er bitter und blickte auf seine erbärmliche Spore. "Anders als Menschen."
Aber die Drachen und ihre Territorien waren weit von der Menschenstadt entfernt, und das aus gutem Grund.
Menschen hatten sich genau deshalb in diesem Gebiet niedergelassen, weil das Mana so knapp war, dass große Bestien es abstoßend fanden. Sie hatten kein Interesse daran.
Für Menschen...
Dies war ihr einziger Schutz.
Nur die schwächsten Kreaturen, vertrieben und verstoßen von den Stärkeren, streiften nahe der Stadt umher. In den Ebenen.
Aber es war sehr selten, sie mussten verletzt oder im Sterben liegen, um es zu wagen, den Wald zu verlassen.
Ohne Mana würde der Hunger sie einholen und sie würden bald sterben.
Das Mana hier, im Menschengebiet, war bei weitem nicht ausreichend.
Und doch waren sie tödlich gefährlich, wahnsinnig durch den Hunger, den der Manamangel in ihnen hervorrief. Wie wilde Tiere auf der Suche nach ihrer nächsten Mahlzeit griffen sie alles an, was sich bewegte.
Ren erschauderte, als er sich an die Geschichten seines Vaters über die Waldränder erinnerte.
Wie die Bestien dort einen leeren, verzweifelten Blick hatten. Wie sie ihre eigenen Wunden ignorierten, nur von Hunger und Manamangel getrieben. Selbst pflanzenfressende Kreaturen wurden aggressiv und griffen jede Manaquelle an, die sie finden konnten.
Aber das war nur der Rand.
Im Drachenterritorium...
Mana würde Rens schlimmster Feind sein, mit einem Biest dieser Stufe könnte er kaum den ersten eisernen Ring betreten, mit den niederrangigsten Bestien. Glücklicherweise befand sich die Ruine, die sein Vater gefunden hatte, gleich am Anfang des bronzenen Rings... Und er konnte durch die Mitte des Eisenrings eintreten.
So etwas könnte sogar für ihn möglich sein, oder?
Sicher, er wollte ins Drachenterritorium gehen und ein Wunder wie das Erlangen von zwei Bestien finden.
Allerdings müsste er sich mit Medizin zufriedengeben, die seine Spore aus seinem Körper vertreiben könnte oder etwas Ähnliches.
So etwas könnte der Medizin ähnlich sein, die seine Mutter heilte.
Drachenterritorium oder sogar der Silberring kamen nicht in Frage. Wenn er zu tief vordringen würde...
Das Mana würde dich schnell verzehren und...
Ren schlug das Buch zu, sein Herz hämmerte.
Würde er wirklich in diesen Wald gehen?
Schon der Gedanke daran war Wahnsinn. Mit seiner nutzlosen Spore wäre Mana vielleicht kein Problem, da er wahrscheinlich nicht einmal seine erste Begegnung mit einem Biest überleben würde.
Aber während er durch die Wand das gedämpfte Schluchzen seiner Eltern hörte...
Welche andere Wahl hatte er?
♢♢♢♢
Als die Nacht hereinbrach...
Entschlossenheit hatte in Ren mehr als nur Mut geweckt... sein Magen knurrte.
Der Duft von Süßwurzeleintopf schwebte noch in der Luft, verlockender denn je, da sein Hunger zurückgekehrt war, nun da er ein klares Ziel hatte.
Er schlich wie ein Schatten aus seinem Zimmer, die Spore schwebte lautlos hinter ihm her. Die Bodendielen knarrten verräterisch unter seinen Füßen, aber Jahre des nächtlichen Schleichens, um Mitternachtssnacks zu stehlen, hatten ihn gelehrt, wo er auftreten musste.
In der Küche stand das Festmahl, das seine Eltern zubereitet hatten, unberührt. Ren wickelte große Portionen Brot mit Eintopf in saubere Tücher ein und packte auch mehrere Waldbeeren ein.
Sein Vater sagte immer, Beeren würden helfen, den Kopf klar zu halten, wenn die Müdigkeit zuschlägt.
Aus dem Werkzeugschrank nahm er das kleinste Küchenmesser seines Vaters, das für feine Arbeiten verwendet wurde, und eine abgenutzte Feldflasche. Seil und die wertvollste Karte seines Vaters. Er zögerte einen Moment, bevor er auch den Feuerstein zum Feuermachen mitnahm.
Es war nicht viel, aber es musste reichen.
Ein Geräusch im Flur ließ sein Herz stillstehen. Schritte.
Er schlich zurück in sein Zimmer und legte sich in sein Bett, gerade als die Tür sich öffnete.
"Ren?" Die sanfte Stimme seiner Mutter. "Liebling..."
Ren tauchte unter die Decke, dankbar für die Dunkelheit, die die gepackte Tasche unter seinem Bett verbarg. Die Spore ließ sich auf seinem Kissen nieder, ihr schwaches graues Leuchten passte perfekt zum Moment.
"Es tut mir so leid, mein Liebling", flüsterte seine Mutter und setzte sich auf die Bettkante.
Ihre Hand, rau von Jahren der Arbeit, aber immer sanft, strich durch sein Haar. "Wenn wir dir ein besseres Ei hätten besorgen können..."
"Es ist nicht deine Schuld, Mama, oder Papas", erwiderte Ren, und zum ersten Mal seit Stunden täuschte er die Emotion in seiner Stimme nicht vor. "Es... es war einfach Pech."
"Möchtest du etwas Eintopf? Er ist noch warm..."
"Morgen", versprach Ren und hasste die Lüge, wusste aber, dass sie für seine Mission notwendig war. "Danke fürs Kochen."
Sie beugte sich vor, küsste seine Stirn, und der vertraute Duft von Gewürzen und Liebe hätte fast seinen Entschluss gebrochen. Fast.
"Ich liebe dich, Kleiner."
"Ich liebe dich auch, Mama."
Die Tür schloss sich leise.
Ren wartete, zählte seine Herzschläge, bis die Schritte sich entfernten und das Haus still wurde.
Mit Bewegungen, die er während seiner nachmittäglichen Ausflüge mit Freunden geübt hatte, band er das Seil fest. Sein Schlafzimmerfenster ging zum hinteren Garten hinaus, ein Sprung von kaum zwei Metern. Die Spore beobachtete schweigend, wie er das Seil am Bettpfosten befestigte.
"Wenn du mich schon auf dieser Reise begleiten willst", flüsterte er seinem Begleiter zu, während er seinen Rucksack schulterte, "solltest du mir wenigstens nicht im Weg sein."
Die Nacht war klar, erleuchtet von fast einem Dutzend Monden. Von seinem Fenster aus konnte er den dunklen Wald jenseits der Stadtgrenzen sehen. Irgendwo dort draußen lag seine einzige Hoffnung auf eine andere Zukunft.
Er nahm das Seil in seine zitternden Hände.
Es tut mir leid, Mama. Es tut mir leid, Papa.
Und er begann seinen Abstieg.