Der Aufbruch bei Nacht
Paris lag in tiefem Schlaf, doch für Lucien und Céleste war es die gefährlichste Zeit. Die Stadt war ein Labyrinth aus Patrouillen, informellen Straßensperren und wachsamen Augen. Ihre einzige Chance war es, sich leise durch die weniger überwachten Gassen zu bewegen, bis sie die Stadtgrenze erreichten. „Bist du sicher, dass wir hier raus müssen?" flüsterte Céleste, als sie sich durch eine schmale Gasse drückten. Lucien nickte und warf einen Blick zurück, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wurden. „Wir haben keine Wahl. Wenn wir bleiben, werden sie uns früher oder später finden. Und ich habe nicht vor, als ‚der charmante Buchhändler, der enthauptet wurde' in die Geschichte einzugehen." Céleste verdrehte die Augen, konnte aber nicht verhindern, dass ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. „Dann beeil dich, Monsieur Charmant. Noch ein Schritt, und wir sind aus der Stadt." Sie erreichten die letzte Straßensperre, einen schlichten Holzzaun, der von zwei schläfrigen Wachen bewacht wurde. „Das wird einfach," flüsterte Lucien. „Einfach?" Céleste sah ihn skeptisch an. „Was hast du vor?" „Vertrau mir," sagte er mit einem Zwinkern. Lucien schlenderte direkt auf die Wachen zu, seine Haltung entspannt, als hätte er keine Sorge der Welt. „Bonsoir, meine Freunde! Ich hoffe, ich störe nicht, aber meine Frau und ich haben uns im Dunkeln verirrt." Die Wachen musterten ihn misstrauisch. „Es ist eine Ausgangssperre," sagte der Größere der beiden. „Oh, natürlich, natürlich!" sagte Lucien und klopfte sich dramatisch an die Stirn. „Aber wir sind auf dem Weg zu einem Arzt. Meine Frau ist..." Er drehte sich um und sah Céleste an, die ihn entgeistert anstarrte. „...hochschwanger!" Céleste schnappte nach Luft, doch bevor sie protestieren konnte, drückte Lucien ihren Arm und zwinkerte ihr zu. „Hochschwanger?" fragte die Wache, skeptisch, aber nicht abgeneigt. „Ja!" rief Lucien aus. „Es könnte jeden Moment so weit sein. Und ehrlich gesagt, ich möchte keine Hebamme mitten in der Rue des Pissenlits rufen müssen." Die Wachen tauschten einen Blick aus, und der Kleinere zuckte mit den Schultern. „Geht. Aber beeilt euch." „Merci, meine Herren!" rief Lucien, bevor er Céleste sanft weiterzog. Als sie außer Hörweite waren, drehte sie sich zu ihm um. „Hochschwanger? Wirklich?" Lucien grinste. „Es hat funktioniert, oder nicht?" „Wenn wir hier raus sind, erkläre ich dich für unzurechnungsfähig," murmelte sie, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken.
Das Land der Unsicherheit
Jenseits von Paris fühlte sich die Welt anders an. Die Geräusche der Stadt – Schreie, Parolen und das unaufhörliche Hämmern der Guillotine – wurden durch das Summen von Grillen und den Wind ersetzt, der über die Felder zog. „Es ist... seltsam ruhig," sagte Céleste, während sie über eine schmale Landstraße gingen. „Zu ruhig," erwiderte Lucien, der sich unwohl fühlte. „Ruhige Orte haben die unangenehme Angewohnheit, plötzlich laut zu werden." Ihr Ziel war ein kleines Dorf, das Lucien von früher kannte. Es war abgelegen und unauffällig, ein perfekter Ort, um unterzutauchen. Doch die Reise dorthin war beschwerlich. Die Tage wurden heiß, die Nächte kalt, und jeder Schatten schien eine neue Gefahr zu bergen. „Erinnerst du dich, was du gesagt hast?" fragte Céleste eines Nachts, als sie an einem Lagerfeuer saßen. „Ich sage viele Dinge," erwiderte Lucien. „Was meinst du?" „Dass du uns ein neues Leben finden willst," sagte sie leise. „Einen Ort ohne Revolutionen. Glaubst du wirklich, dass wir das schaffen können?" Lucien sah sie an, sein übliches Lächeln verblasst. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es versuchen will – mit dir." Céleste legte eine Hand auf seine. „Das ist genug."
Das Schattennetz der Garde
Doch ihre Reise wurde bald unterbrochen. In einem kleinen Dorf, das sie auf dem Weg durchquerten, hörten sie beunruhigende Nachrichten: Die königliche Garde hatte Boten ausgesandt, um nach verdächtigen Revolutionären zu suchen. „Es dauert nicht lange, bis sie uns finden," sagte Céleste, als sie in einer verlassenen Scheune Zuflucht suchten. „Dann dürfen wir keine Spuren hinterlassen," sagte Lucien. „Wir gehen weiter, bei Nacht. Und wir reden mit niemandem." Doch trotz ihrer Vorsicht wurden sie entdeckt. Ein örtlicher Bauer, der ihre Gesichter auf Steckbriefen erkannt hatte, meldete sie bei den Behörden.
Eine Jagd durch die Felder
In der folgenden Nacht hörten sie das unmissverständliche Klappern von Hufen und das Rufen von Soldaten. „Das ist schlecht," sagte Lucien, während er durch die Dunkelheit lief. „Danke für die Analyse," erwiderte Céleste schnippisch. Sie rannten durch die Felder, das hohe Gras gab ihnen Deckung, doch die Soldaten kamen näher. „Dreh dich nicht um!" rief Lucien, als sie über einen Zaun sprangen. Céleste hielt sich dicht hinter ihm, doch der Boden wurde uneben, und sie stolperte. Lucien bemerkte es sofort und kehrte um, um sie aufzuhelfen. „Geh!" rief sie, doch Lucien zog sie entschlossen hoch. „Ich lasse dich nicht hier." Mit einem letzten Kraftakt erreichten sie einen kleinen Fluss, in dessen Uferböschung sie sich versteckten. Die Soldaten ritten an ihnen vorbei, und sie hielten den Atem an, bis das Klappern der Hufe verklang. „Das war knapp," murmelte Céleste, ihre Stimme zitternd. Lucien lächelte schwach. „Ich glaube, ich habe einen neuen Rekord im Fast-Erwischt-Werden aufgestellt."
Ein neues Leben
Als sie schließlich das Dorf erreichten, fühlten sie sich wie Geister. Die Wochen auf der Flucht hatten ihre Spuren hinterlassen, doch in dem kleinen Ort fanden sie ein wenig Frieden. „Hier können wir bleiben," sagte Lucien eines Morgens, als sie das einfache Haus betrachteten, das sie gefunden hatten. „Für wie lange?" fragte Céleste leise. Lucien nahm ihre Hand. „Für so lange, wie wir dürfen." Die Revolution tobte weiter, doch für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Lucien und Céleste hatten das Unmögliche geschafft: Sie waren der Guillotine entkommen, der Revolution entkommen – und hatten einander gefunden. Doch die Frage blieb: Wie lange konnte der Frieden andauern?