Ein neues Versteck
Nach Wochen der Flucht fanden Lucien und Céleste schließlich Unterschlupf in einem abgelegenen Kloster, das versteckt in den Hügeln der Normandie lag. Die Mönche, die dort lebten, kümmerten sich wenig um die politischen Kämpfe, die Frankreich zerrissen. Für sie war jeder Mensch willkommen, der Schutz suchte, solange er den Frieden des Ortes respektierte. „Das ist perfekt," sagte Lucien, als sie in einer kleinen Zelle untergebracht wurden. „Perfekt?" wiederholte Céleste skeptisch und sah die steinernen Wände und das einfache Strohbett an. „Das ist kaum besser als die Gefängnisse, aus denen wir entkommen sind." Lucien zuckte mit den Schultern. „Es gibt keinen Wächter, der uns zum Schafott führt, und das Essen riecht zumindest nach Essen. Ich nenne das einen Fortschritt." Céleste seufzte, doch ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Ich hoffe nur, dass wir hier sicher sind."
Das Schweigen der Hügel
Wochen vergingen, und Lucien und Céleste passten sich an das ruhige Leben im Kloster an. Lucien half den Mönchen in der Bibliothek, reparierte alte Bücher und schrieb gelegentlich Briefe für sie. „Es gibt eine seltsame Ironie darin, dass ich mich jetzt wieder mit Büchern beschäftige," sagte er eines Nachmittags, als er Céleste auf einer Bank im Klostergarten traf. „Warum seltsam?" fragte sie. „Weil diese Bücher über Tugend, Frieden und Vergebung sprechen, während ich mein halbes Leben damit verbracht habe, mich über diese Dinge lustig zu machen." Céleste lächelte. „Vielleicht hast du mehr Tugend, als du zugeben willst." Lucien sah sie an, sein Lächeln schief. „Oder vielleicht bin ich einfach gut darin, so zu tun, als hätte ich welche." Doch trotz der friedlichen Umgebung schien etwas in der Luft zu liegen. Céleste spürte, dass Lucien unruhig wurde, als ob der Stillstand des Klosterlebens ihn mehr belastete, als er zugab. „Was ist los?" fragte sie eines Abends, als sie gemeinsam im Schein einer Kerze saßen. Lucien zögerte, doch schließlich sagte er: „Ich habe das Gefühl, dass wir hier nicht bleiben können. Nicht für immer." „Warum nicht?" „Weil die Welt da draußen brennt, Céleste. Und irgendwann werden die Flammen uns hier erreichen."
Der Besucher
Lucien behielt recht. Eines Morgens, als er in der Bibliothek arbeitete, wurde ein neuer Besucher ins Kloster gebracht – ein Mann mit zerzaustem Haar, abgenutzter Kleidung und Augen, die zu viele Schrecken gesehen hatten. „Wer ist das?" fragte Céleste, als die Mönche dem Mann Essen und Wasser brachten. „Ein Flüchtling, wie wir," sagte Lucien. Doch als er näher hinsah, erstarrte er. „Étienne," flüsterte er. Céleste wirbelte herum. „Was?" „Das ist Étienne. Der Étienne." „Das ist unmöglich. Er wurde gefangen genommen." „Offensichtlich nicht," sagte Lucien trocken. Später am Tag suchte Étienne sie auf, sein Gesicht gezeichnet von Erschöpfung, aber seine Augen voller Entschlossenheit. „Lucien. Céleste," sagte er mit einem schwachen Lächeln. „Ich hatte gehofft, euch zu finden." „Ich wünschte, wir könnten dasselbe sagen," erwiderte Lucien und verschränkte die Arme. Étienne seufzte. „Ich verstehe, dass ihr mir nicht vertraut. Aber ich brauche eure Hilfe." „Hilfe?" Céleste hob eine Augenbraue. „Die letzte ‚Hilfe', die du uns gebeten hast, hat uns beinahe das Leben gekostet." „Ich weiß," sagte Étienne. „Und ich werde das niemals wiedergutmachen können. Aber die Revolution ist in Gefahr. Robespierre wird immer radikaler, und die Bewegung zerbricht. Es gibt nur noch wenige, die versuchen, das Gleichgewicht zu wahren – und wir brauchen euch."
Zwischen zwei Welten
Céleste und Lucien zogen sich zurück, um Étiennes Bitte zu besprechen. „Das ist Wahnsinn," sagte Céleste. „Er hat uns schon einmal verraten. Warum sollten wir ihm jetzt glauben?" „Weil er Recht haben könnte," sagte Lucien. „Die Revolution hat uns alles genommen, aber wir haben auch dafür gekämpft. Vielleicht schulden wir ihr etwas." Céleste schüttelte den Kopf. „Ich schulde dieser Revolution gar nichts. Alles, was ich wollte, war Freiheit – für mich, für dich. Und jetzt sollen wir uns wieder in Gefahr bringen?" „Vielleicht," sagte Lucien leise. „Aber vielleicht ist das unsere einzige Chance, etwas zu verändern."
Der Entschluss
Nach einer schlaflosen Nacht trafen sie ihre Entscheidung. Sie würden Étienne begleiten, aber unter ihren eigenen Bedingungen. „Ein letzter Einsatz," sagte Lucien, als sie Étienne am nächsten Morgen trafen. „Aber wenn du uns ein weiteres Mal verrätst, wird das dein letztes Verrat sein." Étienne nickte. „Das ist alles, was ich verlange." Die drei machten sich auf den Weg zurück nach Paris, wo die Revolution auf ihrem Höhepunkt war – und wo die wahre Gefahr auf sie wartete.