In der Familie des Grafen Alaric gab es ein anhaltendes Problem, das sich immer wieder um seine älteste Tochter, Seraphina Alaric, drehte. Der Graf murrte oft darüber, wie viel Geld ihretwegen vergeudet worden war, weil sie ständig krank und an ihr Bett gefesselt war.
Wenn es auch nur den Hauch einer Chance auf Besserung gegeben hätte, hätte sich vielleicht seine Haltung geändert. Aber Seraphinas Gesundheit war schon immer empfindlich, und ihre ständigen Krankheiten verringerten nach und nach die Zuneigung ihrer Eltern. Sie sahen in ihr nicht mehr das geliebte Kind, sondern eine Last, die sie tragen mussten.
Seraphina verbrachte mehr Zeit in ihrem Zimmer als an jedem anderen Ort und musste all die Vergnügungen missen, die andere adlige Kinder hatten – Feste, Versammlungen, sogar einfache Spaziergänge im Garten. Je länger ihre Krankheit andauerte, desto seltener wurden die Besuche. Anfangs kamen besorgte Verwandte und neugierige Freunde, aber nachdem Monate zu Jahren wurden, hörten die Besuche ganz auf. Sie wurde der völligen Isolation überlassen, und mit dieser Isolation kamen unvermeidlich Gerüchte auf.
Gerüchte über sie verbreiteten sich rasend schnell. Einige meinten, sie sei verflucht, ihre Krankheit sei die Strafe des Himmels für eine unbekannte Sünde. Andere glaubten, sie sei eine Hexe, von ihren eigenen dunklen Mächten zu Fall gebracht. Die Wahrheit war natürlich viel schlichter: Sie war einfach nur krank. Aber selten hatte die Wahrheit Gewicht, wenn es um Klatsch ging.
Immer, wenn Graf Alaric ihr blasses, schwaches Antlitz sah, empfand er nichts als Frustration und Zorn. Er hatte nie ein freundliches Wort oder ein sanftes Lächeln für sie übrig. Stattdessen beschimpfte er sie und nannte sie grausame Namen wie "verfluchtes Kind". Die Gerüchte, die sie umgaben, machten ihn nur noch wütender, und es dauerte nicht lange, bis er sie in ihrem Zimmer einsperrte. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen, konnte die Erscheinung ihres gespenstischen Daseins nicht erdulden, also verschloss er sie mit der Hoffnung, ihre Existenz vergessen zu können.
Seraphina hatte sich schon lange an die Kälte ihrer Familie gewöhnt. Familiäre Wärme hatte sie nie wirklich erfahren. Ihre Mahlzeiten wurden in ihr Zimmer gebracht, wo sie alleine aß und den entfernten Lauten von Lachen und Unterhaltungen aus dem Rest des Haushaltes lauschte. Die Vernachlässigung durch ihre Eltern hatte das Verhalten der restlichen Familie gegenüber ihr geprägt. Ihre Geschwister ignorierten sie, als wäre sie unsichtbar, und behandelten sie nicht wie ihre Schwester, sondern wie eine Unannehmlichkeit.
Obwohl sie die Tochter des Grafen war, galt sie allen als Bürde – eine Bürde, von der insgeheim jeder wünschte, sie würde verschwinden. Wenn jemand über sie sprach, dann mit einem resignierten Tonfall, als würde man nur auf das Unvermeidliche warten.
"Wer weiß, wann sie endlich von uns geht", flüsterten sie. Und Seraphina konnte es ihnen nicht verübeln, dass sie so dachten. Manchmal ging es ihr selbst nicht anders. Ihre Krankheit fühlte sich an, als würde sie sie langsam umbringen, ihr nach und nach die Lebenskraft rauben. Doch trotz allem überlebte sie länger, als alle erwartet hatten. Sie hatte das Alter erreicht, in dem adlige Töchter normalerweise verheiratet wurden, aber es hatte sich kein Freier für sie gefunden.
Der Grund dafür war schmerzlich offensichtlich.
Eines Morgens platzte dem Grafen Alaric der Kragen. Er ließ Seraphina in sein Arbeitszimmer rufen, seine Stimme dröhnte durch die Gänge. Das Hauspersonal wusste nur zu gut, dass man ihm besser nicht in den Weg kam, wenn er so aufgebracht war.
"Du nichtsnutziges Ding!" brüllte er, sobald sie den Raum betrat, seine Stimme laut genug, um die Fensterscheiben zum Klirren zu bringen.
Für ihn war Seraphina immer eine Enttäuschung gewesen. Von dem Moment an, als sie geboren wurde, war sie nur eine Plage. Seine älteste Tochter hätte ein Quell des Stolzes sein sollen, eine gute Heirat für die Familie sichern. Doch stattdessen bot sie keine Aussichten, keine Zukunft. Sie war eine Belastung für die Ressourcen der Familie, und ihre fortwährende Anwesenheit war eine Peinlichkeit."Wie bin ich nur an ein Kind wie dich geraten?" spie er aus und starrte sie mit unverhohlener Verachtung an. Seraphina stand still da, ihren Kopf gesenkt, ihre blassen Hände vor sich verschränkt. Sie hatte all das schon unzählige Male zuvor gehört. Es tat nicht weniger weh, aber sie hatte gelernt, es zu ertragen.
"Warum muss unsere Familie diese Demütigung erdulden?" fuhr er fort, seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. "Hast du eine Ahnung, wie viel ich deinetwegen verloren habe?" Graf Alaric, bekannt für seinen Ehrgeiz, hatte schon immer verzweifelt versucht, die soziale und politische Leiter hinaufzuklettern. Eine starke Eheallianz war seine beste Chance, mehr Macht und Reichtum zu erlangen, aber Seraphina hatte ihm diese Möglichkeit nicht geboten. Für ihn war sie ein Klotz am Bein, der ihn von seinen Zielen abhielt.
Politische Heiraten waren in ihrer Welt nichts Ungewöhnliches, sie wurden sogar erwartet. Sie drehten sich nicht um Liebe oder Zuneigung, sondern um das Sichern von Bündnissen, das Vergrößern des Einflusses und das Stärken von Beziehungen zwischen mächtigen Familien. Der Graf hatte Seraphinas Mutter aus genau diesen Gründen geheiratet. Es war nie eine Liebesehe gewesen, doch sie war für beide Familien vorteilhaft. In seinen Augen war die Ehe nicht mehr als eine Transaktion, ein Mittel zum Zweck. Und Seraphina hatte in ihrer Pflicht, zu diesem Plan beizutragen, versagt.
Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass ein Stapel Papiere verstreut wurde.
"Warum hat noch niemand um deine Hand angehalten?" verlangte er, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. "Was stimmt nicht mit dir?"
Seraphina antwortete nicht. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte nicht darum gebeten, von der Heirat verschont zu werden; tatsächlich hatte sie sich längst damit abgefunden, dass dies wahrscheinlich ihre einzige Möglichkeit wäre, diesem Leben der Isolation zu entkommen. Aber sie wusste auch, dass sich niemand melden würde, um ihr einen Antrag zu machen – nicht solange sie krank und gebrechlich war.
Doch heute war etwas anders in der Stimme ihres Vaters. Es war nicht nur Wut. Da war noch etwas anderes - etwas, das sie zuvor nicht gehört hatte. Verzweiflung.
"Es gibt einen Vorschlag", sagte er schließlich, seine Stimme von Bitterkeit durchzogen.
Seraphina blinzelte und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Ein Antrag? Jemand hatte ihr tatsächlich einen Antrag gemacht? Für einen Moment flackerte Hoffnung in ihrem Herzen auf. Könnte das ihre Chance sein? Könnte dies ihr Ausweg aus dem Gefängnis sein, zu dem ihr Leben geworden war?