LUO YAN saß in der Bibliothek, einer riesigen Bibliothek mit Dutzenden Regalen voller Bücher. Man musste sogar eine Leiter benutzen, um an einige der Bücher zu gelangen. Die Bücher waren unterteilt in Bildungsliteratur und Belletristik. Die Bildungsbücher waren weiter nach verschiedenen Künsten und Wissenschaften sortiert, während die Belletristik nach Genres differenziert wurde.
Als Luo Yan diesen Ort zum ersten Mal betrat, war er wirklich schockiert und fasziniert. Er hätte nie gedacht, dass ein Haus eine so große Bibliothek haben könnte. Sein älterer Bruder hatte ihm erzählt, dass ihr Vater das Lesen liebte, weshalb ihre Mutter nicht zögerte, eine so umfangreiche Bibliothek in die Hausplanung aufzunehmen. Das zeugte nur noch mehr von der großen Liebe ihrer Eltern zueinander.
Nach dem Gespräch der Familie beim Frühstück kündigte Luo Jin sofort an, dass er noch heute mit dem Unterricht beginnen würde. Nun wartete Luo Yan in der Bibliothek auf ihn. Zuerst fragte er sich, warum sie nicht einfach in Luo Jins Zimmer lernen könnten, erinnerte sich dann jedoch daran, dass sich das Zimmer seines Bruders im zweiten Stock befand. Luo Jin war wahrscheinlich besorgt, dass es zu anstrengend für ihn wäre, dorthin zu gelangen. Immerhin waren die Treppen im Haus ziemlich hoch und lang. In seinem jetzigen Zustand könnte er leicht stolpern und fallen, wenn er nicht vorsichtig genug wäre.
Als Luo Yan das realisierte, lächelte er nur. Sein jüngerer Bruder war im Inneren wirklich nur ein großer, liebenswerter Kerl.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür der Bibliothek und Luo Jin trat ein. In der Hand hielt er einen Stapel Papiere. Er kam zu Luo Yan, setzte sich neben ihn und legte die Papiere auf den Tisch vor ihnen. Er wählte ein Blatt aus und legte es Luo Yan vor. Zudem öffnete er ein Mäppchen, das einen Druckbleistift und einen Radiergummi enthielt.
„Zuerst möchte ich, dass du die Fragen auf diesem Blatt beantwortest. Es ist in Ordnung, wenn du die Antwort nicht weißt. Lass es einfach leer und beantworte nur, was du kannst. Ich werde deine Antworten danach überprüfen", sagte Luo Jin ohne Umschweife.
Er wollte erst herausfinden, auf welchem Verständnisniveau sein Bruder war. Ob er weiterhin auf einem Viertklässler-Niveau war oder ob es sich zurückentwickelt hatte. Nach Feststellung des Ergebnisses würde er sich mit den Nachhilfelehrern abstimmen, die sein Vater engagiert hatte. Er wollte nicht, dass andere seinen Bruder dumm nannten. Er konnte das, aber andere nicht. Er wollte, dass sein Bruder in den Augen anderer der Beste war. Niemand durfte ihn beleidigen.
„Okay, Ah Jin", sagte Luo Yan.
Er blickte auf das Blatt vor ihm und sein Gesicht verfinsterte sich sofort, als er die Fragen darauf sah. Es war ein Mathe-Test für die erste Klasse! 10+1... 8+5... 7+9... Je mehr er sah, desto finsterer wurde sein Gesicht. Er konnte förmlich spüren, wie sein Gehirn schmerzte. Es war, als ob dieses Blatt seinen IQ physisch angriff.
Er warf Luo Jin einen seitlichen Blick zu. Er sah die stille Ermutigung in seinen Augen. Luo Yan zwang sich, sich zu beruhigen. Sein Bruder handelte nicht absichtlich so. Wahrscheinlich wollte Luo Jin nur sein Verständnisniveau testen. Aber trotzdem.
Am Ende seufzte er nur und beantwortete alle Fragen auf dem Blatt."Das war's, Ah Jin", sagte er und schob den Zettel zu Luo Jin herüber.
Luo Jin nahm ihn, überprüfte die Antworten und nickte zufrieden. Sein zweiter Bruder hatte alles richtig gelöst. "Sehr gut. Du bist als Nächster dran."
Das nächste Blatt war tatsächlich ein Mathe-Test aus der zweiten Klasse! Luo Yan hielt durch, gab sein Bestes und versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Doch als das nächste Blatt kam und es wieder ein Mathe-Test aus der dritten Klasse war, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Denn nun schmerzte nicht nur sein Verstand; sein Magen und seine Leber revoltierten ebenfalls.
Er atmete tief durch, wandte sich an Luo Jin und setzte dabei ein unschuldiges Lächeln auf. "Ah Jin, diese Fragen sind zu leicht. Gibt es schwierigere? Darf ich den nächsten Test selbst auswählen?"
Noch bevor Luo Jin antworten konnte, griff Luo Yan sich den Stapel Papiere vor seinem Bruder. Rasch durchblätterte er sie und sein Gesicht verfinsterte sich erneut, als er feststellte, dass die schwierigsten Fragen in jedem Fach auf dem Niveau der sechsten Klasse waren. Mit einem Seufzer wählte er einen Mathe-Test aus der sechsten Klasse aus. Er löste die Fragen mit Leichtigkeit und reichte das Blatt zurück an Luo Jin.
Luo Jin war zunächst skeptisch, als er sah, dass sein Bruder sich einen Mathe-Test der sechsten Klasse ausgesucht hatte. Aber als er die Antworten überprüfte und feststellte, dass sein Bruder alles richtig beantwortet hatte, staunte er. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass sein Bruder vor dem Unfall immer Klassenbester gewesen war, genauso wie ihr älterer Bruder. Deshalb hatte auch Luo Jin begonnen, fleißig zu lernen. Er wollte so sein wie seine Brüder.
Es erleichterte Luo Jin, zu sehen, dass die Intelligenz seines Bruders nicht gelitten hatte und er noch immer so klug war wie zuvor. Mit den besten Nachhilfelehrern würde sein Bruder bestimmt schnell das Niveau der High School erreichen. Vielleicht könnte er sogar im kommenden Schuljahr dieselbe Schule besuchen wie er.
"Gut so, dann kann ich Vater und unserem älteren Bruder beruhigt sagen, dass du nicht dumm geworden bist."
Luo Yan unterdrückte nur mit Mühe das Verlangen, seinen Bruder zu ohrfeigen. Er hatte sich geschworen zu zeigen, wie schlau er war, sobald die Nachhilfelehrer eintrafen. Anfangs hatte er vor, sich zurückzuhalten und nur schrittweise Fortschritte zu machen. Er musste schließlich nicht hart arbeiten. Selbst wenn er sich entschied, sein Leben lang nur ein fauler Fisch zu sein, würde diese Familie ihn sicher unterstützen. Doch diese Erfahrung zeigte ihm, dass er es nicht ertragen konnte, behandelt zu werden, als wäre sein IQ auf dem Niveau eines Kindes. Dann war es besser, als Genie behandelt zu werden.
Er würde nicht zulassen, dass sein IQ noch einmal infrage gestellt wird. Denn ehrlich gesagt, das könnte wirklich langfristige Schäden an seinem Gehirn verursachen.