Alice wachte auf.
Sie blinzelte. Sie lag in einem Bett und starrte an eine dunkle Holzdecke.
[Wo... wo bin ich?], dachte sie, noch etwas benommen von dem Übergang.
Ihre Sinne begannen sich zu schärfen und sie vernahm ein Geräusch. Jemand weinte, die Schluchzer waren leise und gedämpft, als ob versucht würde, sie zu unterdrücken.
Alice drehte den Kopf und sah eine Frau, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte und weinte.
Alice' Augen weiteten sich.
Die Frau hatte eine tiefe, reiche lila Hautfarbe. Aber das war noch nicht alles, sie hatte auch zwei schwarze Hörner auf dem Kopf.
[Was zum...?]
Alice versuchte sich aufzurichten, ihr Körper fühlte sich seltsam und unbekannt an.
Dabei bemerkte sie einen Blick auf ihre eigene Haut – sie war ebenfalls lila, nur eine Nuance heller.
[W-Was...?]
Sie öffnete den Mund, um die Frau zu fragen, was los sei. Doch kaum hatte sie das getan, wurde sie von einem Flut aus Erinnerungen heimgesucht, die mit ihrer Intensität fast zu viel waren.
Sie sah Bruchstücke von einem Leben, das nicht ihres war.
Ein junges, kränkliches und schwaches Mädchen, dessen Körper von Schmerzen und Fieber heimgesucht wurde. Ihre Eltern, die lila-häutige Frau da und ein ebenso lila-häutiger Mann mit Augen wie glühende Kohlen, sie sahen über sie hinweg mit verzweifelten, tränenüberströmten Blicken.
Sie sah, wie das Mädchen Jahr für Jahr schwächer wurde, wie ihr Leben verging wie Sand in einer Sanduhr. Und dann, in ihren letzten Augenblicken, sah sie, wie die Seele des Mädchens ihren Körper verließ und Platz machte für... für...
[Für mich], erkannte Alice mit einem heftigen Schlag ihres Herzens. [Ich habe... ich habe ihren Platz eingenommen. Ich bin jetzt in ihrem Körper.]
Die Erkenntnis war so erschütternd, dass sie fast einen Herzinfarkt befürchtete. Was für eine Verschwendung es wäre, diesen Körper so schnell nach dem Erhalt wieder aufzugeben.
Die Frau hob den Blick und ihre Augen weiteten sich, als sie Alice sah, wie sie sich im Bett aufsetzte.
"M-Melisa?", hauchte sie, ihre Stimme rau. "Bist das... bist du es?"
Alice zögerte, unsicher was sie antworten sollte.
Sie war nicht dieses Melisa-Mädchen. Nicht wirklich.
Aber nun war sie in ihrem Körper und hatte ihre Erinnerungen.
Was sollte sie sagen?
"Ich..." fing Alice an, ihre eigene Stimme kam ihr fremdartig und ungewohnt vor. So hoch, so... kindlich. "Ich weiß nicht... das bin ich nicht..."
Bevor sie ihren Gedanken abschließen konnte, legte die Frau ihre Arme um sie und umarmte sie fest.
"Oh, MELISA", schluchzte sie, ihre Tränen tränkten Alices Shirt. "Ich dachte... ich dachte, ich hätte dich verloren. Aber du bist hier, du lebst. Es ist ein Wunder."
Alice erstarrte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, was sie sagen sollte. Diese Frau glaubte, sie sei ihre Tochter; das Mädchen, das gerade gestorben war.
Wie könnte sie ihr die Wahrheit sagen? Sollte sie ihr überhaupt die Wahrheit sagen?
Nach ein paar Sekunden hatte sie ihre Antwort gefunden.
[Ich kann nicht], dachte Alice und eine Welle von Schuldgefühlen überkam sie. [Ich kann ihr das Herz nicht so brechen, nicht nach allem, was sie durchgemacht hat.]
Also umarmte sie die Frau langsam zurück und ließ sie in ihre Schulter weinen.'"Es ist in Ordnung", sagte sie leise. "Ich bin hier. Ich gehe nicht fort."
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Alice, nun Melisa, stand in ihrem Zimmer und betrachtete ihr Spiegelbild.
Aus irgendeinem Grund hatte sie damit gerechnet, in genau der gleichen Gestalt wiedergeboren zu werden, in der sie gestorben war - mit ihrem 28-jährigen Körper, den Haaren, der Haut, dem ganzen Drum und Dran.
Doch ihre Haut war, wie sie zuvor bemerkt hatte, ein leichtes Violett. Ihre Haare waren schwarz wie die Nacht und fielen in sanften Wellen um ihr Gesicht. Ihre Augen leuchteten rot. Und sei denn, die Menschen in dieser Welt waren allesamt sehr klein und jene Frau von zuvor zufällig sehr groß, so war sie jetzt ein Kind.
Doch das war noch nicht alles.
Aus ihrer Stirn ragten ein Paar Hörner. Sie hatte auch einen Schwanz, lang und schlank, mit einer herzförmigen Spitze, die sanft hinter ihr schwang.
Zweifellos -
[Ich sehe aus wie ... ein Sukkubus,] dachte Alice, während ihr Kopf schwirrte.
Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie musste sich konzentrieren, herauszufinden, was hier vorging.
Ihr Blick fiel auf das Tagebuch, das auf ihrem Bett lag, gleich neben der Stelle, an der sie gelegen hatte - als wäre es gerade eben noch von der eigentlichen Eigentümerin dieses Körpers beschrieben worden.
Es war Melisas Tagebuch, gefüllt mit ihren alltäglichen Gedanken.
Alice hatte es eilig durchblättert, verzweifelt auf der Suche nach jeglichen Informationen. Und einiges hatte sie herausgefunden.
Wichtig war vor allem, dass sie nun wusste, sie war Melisa Blackflame, das einzige Kind der Familie Blackflame.
Sie betrachtete noch einmal ihr Spiegelbild, die Hörner, den Schwanz, die glühend roten Augen.
[Welch eine Welt mag das nur sein...?] Sie setzte ein entschlossenes Gesicht auf. [Ich brauche mehr Informationen,] dachte sie und wandte sich vom Spiegel ab. [Ich muss mehr über diese Welt erfahren, über Melisa.]
Sie fing an, im Raum nach weiteren Büchern, Zeitschriften, irgendwelchen Anhaltspunkten zu suchen.
Ein paar Lehrbücher fand sie, ihre Einbände abgenutzt und verblasst.
[Überwiegend Geschichte.]
Sie blätterte durch die Seiten, überflog den Inhalt.
Es gab so viel zu lernen. Melisa selbst hatte, ihren Erinnerungen nach zu urteilen, wohl höchstens ein paar Seiten gelesen.
[Seltsam, ich kann dies lesen. Es ist zwar kein Englisch, aber... es ist, als würde mein Geist die Worte in Echtzeit ins Englische übersetzen.]
Gerade als Alice in den Inhalt des Buches vertiefen wollte, hörte sie ein Klopfen an ihrer Tür.
Noch bevor sie reagieren konnte, öffnete sich die Tür. Die Frau von vorhin trat ein, gefolgt von einem ebenfalls violetten Mann und ... einem Menschen.
[Ein Mensch? Hier?] Alice' Augen weiteten sich. [Also gibt es doch Menschen in dieser Welt...]
Der Mann und die Frau trugen beide feine Kleidung, edel und luxuriös aussehend. Der Mensch hingegen trug eine einfache Robe und eine Ledertasche über der Schulter.
"Melisa, Liebes", sagte die Frau. "Wir... wir müssen dich untersuchen. Um sicherzugehen, dass es dir gut geht." Sie deutete auf den menschlichen Mann. "Das ist Heiler Aldric. Er ist gekommen, um nach dir zu sehen, um... um festzustellen, was geschehen ist."
Alice nickte langsam, ihre Gedanken rasend schnell. Eine Untersuchung? Um zu sehen, was geschehen war? Heißt das, sie hatten Verdacht geschöpft?
[Sei gelassen, Alice,] sagte sie sich. [Du bist jetzt Melisa, erinnerst du dich? Tu einfach so, als wäre alles normal.]
"Selbstverständlich", sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. "Ich verstehe."
Heiler Aldric trat näher, sein Gesicht von einem freundlichen Lächeln gezeichnet.
"Keine Angst, mein Fräulein", sprach er mit sanfter und beruhigender Stimme. "Es wird nicht im Geringsten wehtun."Er hob seine Hand, und Alices Augen weiteten sich, als ein sanftes Leuchten von seiner Handfläche ausging.
[Magie], erkannte sie, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. [Er benutzt Magie!]
Wie gebannt beobachtete sie, wie der Heiler seine Hand über ihren Körper gleiten ließ, und das Leuchten verstärkte sich, sobald er bestimmte Bereiche berührte.
[In dieser Welt existiert Magie, echte Magie.] Der Gedanke ließ sie erschauern. [Magie ist hier Wirklichkeit. Was könnte noch alles real sein? Drachen? Feen? Götter und Dämonen?]
Der Heiler beendete seine Untersuchung und das Leuchten an seiner Hand erlosch.
Er wandte sich an Melisas Eltern, sein Gesichtsausdruck verriet Verwirrung.
"Es ist unglaublich," sagte er und schüttelte den Kopf. "Noch gestern war Lady Melisa dem Tode nah. Ihr Körper war von der Krankheit gezeichnet, ihre Lebenskraft schwand mit jeder Minute."
Er blickte wieder zu Alice und seine Augen weiteten sich in Staunen.
"Aber jetzt... jetzt ist sie völlig gesund. Als hätte es die Krankheit niemals gegeben."
Melisas Mutter stieß einen erstickten Schluchzer aus und hielt sich die Hand vor den Mund.
"Es ist ein Wunder," flüsterte sie mit Tränen auf den Wangen. "Ein wahres Wunder."
Der lilafarbene Mann, den Alice für Melisas Vater hielt, legte seiner Frau den Arm um die Schulter, auch seine Augen glänzten von Tränen.
"Danke, Heiler Aldric", sagte er mit einer Stimme, rau vor Emotion. "Ich danke Ihnen für alles, was Sie für unsere Tochter getan haben."
Der Heiler neigte seinen Kopf.
"Es ist mir eine Ehre gewesen, zu dienen", sagte er. "Doch ich fürchte, ich kann nicht für dieses Wunder beanspruchen. Es ist das Werk der Götter, nicht meines."
[Die Götter?] dachte Alice, während sich ihre Gedanken überschlugen. [Gibt es also auch in dieser Welt Götter? Oder haben diese Menschen zumindest ihre eigenen Glaubensvorstellungen.]
Da stürzte sich Melisas Mutter auf sie und schluchzte in ihre Brust.
"Oh, mein Kind, mein Kind", schluchzte sie, ihre Stimme gedämpft durch Alices Shirt. "Du lebst, du bist wirklich am Leben."
Alice saß wie versteinert da, unsicher, was sie tun sollte.
Sie sah zu Melisas Vater und dem Heiler hoch, in der Hoffnung auf irgendeinen Rat. Doch sie standen nur da und betrachteten die Szene mit einer Mischung aus Freude und Verwirrung.
Ihr kam plötzlich ein Gedanke.
[Ich muss etwas tun,] dachte Alice, ihre Gedanken wirbelten herum. [Ich kann nicht ewig vorgeben, Melisa zu sein. Das wäre ihnen gegenüber nicht fair – und mir selbst auch nicht. Ich würde diese Schauspielerei ohnehin spätestens nach einer Stunde vermasseln.]
Doch sie konnte es ihnen nicht einfach so sagen, oder? Dass sie eine Fremde war, eine Eindringlingin im Körper ihrer Tochter? Das würde ihre Herzen brechen und ihr neu gefundenes Glück zerstören.
Nein, sie brauchte einen Plan. Eine Möglichkeit aufzuzeigen, dass sie anders war, dass sie Hilfe benötigte, ohne die ganze Wahrheit preiszugeben.
Und dann hatte sie eine Idee.
Sie atmete tief durch und fasste Mut für das, was sie als Nächstes sagen würde.
"Wer... wer seid ihr?", fragte sie mit leiser, verwirrter Stimme.
Melisas Mutter wich zurück, sichtlich schockiert.
"Was... was meinst du, Liebling? Wir sind es, deine Eltern."
Alice schüttelte den Kopf und biß sich auf die Lippe.
"Es tut mir leid, aber... ich kann mich nicht erinnern. Ich habe keine Erinnerung an euch – oder an irgendetwas."
Stille breitete sich im Raum aus, und die Freude und Erleichterung von vorhin wurden von einer drückenden Spannung abgelöst."Amnesie", sagte der Heiler mit ernster Stimme. "Das ist bei Nahtoderfahrungen nicht ungewöhnlich. Der Verstand... er schaltet sich ab, um sich vor dem Trauma zu schützen."
Melisas Vater nickte, sein Gesicht fahl vor Sorge.
"Wird sie sich... wird sie sich erholen?"
Der Heiler zögerte, sein Blick ging kurz zu Alice.
"Das lässt sich schwer sagen. In einigen Fällen kehren die Erinnerungen mit der Zeit und Geduld von selbst zurück. In anderen..."
Er ließ den Satz unvollendet und die unausgesprochene Wahrheit hing schwer im Raum.
[In anderen Fällen kommen sie nie wieder zurück], dachte Alice still für sich. [Fühle ich mich schuldig? Natürlich. Aber eigentlich kommt mir das sehr gelegen.]
"Es tut mir leid", sagte sie mit zitternder Stimme. "Ich möchte mich erinnern, das möchte ich wirklich. Aber es ist, als ob... als ob alles leer wäre."
Melisas Mutter brach in schluchzendes Weinen aus und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Ihr Vater legte einen Arm um sie, seine Augen schimmerten feucht.
"Es ist in Ordnung, Melisa", sagte er mit belegter Stimme. "Wir werden das gemeinsam durchstehen. Du lebst, und das ist das Wichtigste."
Alice nickte und schluckte den Knoten in ihrem Hals hinunter.
"Danke", flüsterte sie, unfähig, mehr zu sagen.
Der Heiler räusperte sich, sein Gesicht von Mitgefühl gezeichnet.
"Ich werde mich umsehen, ob es Behandlungsmöglichkeiten oder Therapien gibt, die helfen könnten. Im Moment ist das Beste, was wir tun können, Melisa zu unterstützen und ihr dabei zu helfen, sich an die neue... Situation zu gewöhnen."
Melisas Eltern nickten entschlossen.
"Wir werden tun, was nötig ist", erklärte ihre Mutter kämpferisch. "Wir helfen dir, dich zu erinnern, Melisa. Wir helfen dir, dich selbst wiederzufinden."
Alice spürte eine Welle der Dankbarkeit, die jedoch von einem schweren Schuldgefühl begleitet war.
[Sie lieben sie so sehr], dachte sie mit schmerzendem Herzen. [Sie lieben *mich* so sehr, auch wenn ich in Wahrheit nicht ihre Tochter bin.]
Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste sich auf die Gegenwart konzentrieren, auf die Herausforderungen, denen sie sich stellen musste.
"Danke", sagte sie noch einmal und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. "Ich glaube, ich brauche etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten. Könnte ich mich ein wenig ausruhen?"
"Natürlich, mein Schatz", sagte ihre Mutter und stand auf. "Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Wir sind hier, wenn du uns brauchst."
Sie verließen das Zimmer, und der Heiler nickte ihr noch einmal zuversichtlich zu, bevor er die Tür schloss.
Dann war Alice allein, allein mit ihren Gedanken, ihrer Schuld und ihrer Angst.
[In was habe ich mich nur hineingezogen?], dachte sie und ließ sich seufzend zurück auf das Bett fallen. [Ich bin in einer fremden Welt, in einem fremden Körper, bei einer Familie, die denkt, ich sei ihre verstorbene Tochter.]
Doch selbst als Zweifel und Sorgen ihre Gedanken umwirbelten, spürte sie einen Funken von etwas anderem, etwas Wärmendem und Hellem und Hoffnungsvollem.
[Ich habe eine zweite Chance], dachte sie und ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen. [Eine Chance, ein Leben zu führen, das ich mir nie hätte vorstellen können, ein Leben voller Magie, Wunder und Liebe.]
Es würde nicht leicht werden, das wusste sie. Es würde Herausforderungen, Hindernisse und Momente des Zweifels geben.
Aber sie war bereit, sich ihnen zu stellen, dieses neue Leben mit ganzem Herzen zu umarmen.
Sie ging zurück zum Spiegel.
Sie starrte sich selbst an und atmete tief durch.
[Ich bin Melisa Blackflame], dachte sie, während in ihrer Brust eine wilde Entschlossenheit brannte. [Und ich werde diese zweite Chance nutzen, komme was wolle.]