Emily Molson war eine Naturgewalt. Trotz ihrer zierlichen Statur - die gemeinen Mädchen und die Schule nannten sie ‚Short'Em' - konnte sie sich in einem Kampf durchsetzen und war so hartnäckig wie ein Pitbull, wenn es die Situation erforderte. Und ihrer Mutter zufolge auch dann, wenn es nicht der Fall war, aber diese hätte besser gar nichts sagen sollen. Schließlich hatte Emily ihre Hartnäckigkeit von Jane Molson geerbt.
Mit dieser Hartnäckigkeit hatte Emily sich für die Polizeiakademie beworben. Sie hatte die erste Auswahlrunde mit Blut, Schweiß und Tränen überstanden und die Hürden nur mit Sturheit und Entschlossenheit gemeistert. Sie war auch angenommen worden, nur um festzustellen, dass ihre harte Arbeit vergeblich war, als ihr Geheimnis ans Licht kam und sie rausgeworfen wurde.
Emilys Geheimnis war nichts so Aufregendes wie die einer ausländischen Spionin. Nein, Emilys Problem war eines, das Menschen von Zeit zu Zeit hatten, nur dass ihres beständiger war.
Albträume.
Sie kämpfte seit Wochen damit, und die Akademie hatte sie entlassen, weil ihre Schreie die anderen Rekruten immer wieder aufgeweckt hatten.
„Du kannst diesen Beruf nicht ergreifen, wenn du bereits solche Albträume hast, er wird dich zermahlen und ausspucken", hatte man ihr gesagt. Daraufhin hatte sie ihr Studium in Buchhaltung abgeschlossen. Von da an wechselte sie von einem Job zum nächsten, wobei ihr Schlafmangel stets ein Hindernis darstellte, bis sie irgendwie in ihren derzeitigen Job gestolpert war, den sie nun schon seit zwei Jahren innehatte. Ein Wunder, über das sie immer noch den Kopf schüttelte.
Emily war nicht mehr Emily, die ewig Jobsuchende. Sie war Emily Molson, persönliche Assistentin von Derek Haven, dem CEO von Haven Group. Zum ersten Mal war es ein Segen, keine gute Beziehung zum Schlaf zu haben: die langen Arbeitszeiten, der frühe Beginn des Tages.
Wen kümmerte es schon, spät zu arbeiten, wenn man wusste, dass einen nur Albträume erwarteten? Sie jedenfalls nicht. Und es machte ihr auch nichts aus, dass sie als seine Assistentin vor ihm zur Arbeit kam. Sie war ohnehin wach, jetzt konnte sie es zumindest darauf schieben, nicht zu spät kommen zu wollen, statt nach einem schlechten Traum nicht mehr einschlafen zu können.
Und trotz seines Rufs als harter Chef, ein Ruf, der gerechtfertigt war. Der Assistent, den Emily ersetzt hatte, war ein junger Mann gewesen, der laut schluchzend und alles beschimpfend das Büro verlassen hatte, als Emily eintrat. Für Derek zu arbeiten, war eigentlich gar nicht so schlecht.
Er hatte nie unangemessene Annäherungsversuche unternommen – eine echte Seltenheit in der Arbeitswelt. Und es machte ihm nichts aus, wenn Emilys Haar manchmal etwas zu kraus war, weil sie die ganze Nacht hin und her geworfen hatte. Er erwähnte auch nie, dass die dunklen Ringe unter ihren braunen Augen sie manche Tage aussehen ließen, als hätte sie gegen einen Profiboxer gekämpft.
Tatsächlich sah Emily manchmal, wenn sie ihn ansah, einen Hauch von Schatten unter seinen Augen. In diesen Momenten würde sie schwören, dass er genauso müde aussah wie sie sich fühlte. Aber das war nur Wunschdenken.
Eine törichte Hoffnung, dass sie nicht die einzige Person auf der Welt war, die mit dem Schlaf kämpfte.