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Chapter 9 - Verrat auf niedriger Ebene

Neve starrte auf die Szene vor sich.

Nichts ergab einen Sinn.

Unter Stellas Körper sammelte sich Blut. Uriels Augen starrten leer und kalt in den Nachthimmel, während eines von Thomas' Messern noch zwischen ihnen steckte. Nun zogen auch alle Spieler mit niedrigem Rang hinter Thomas ihre Waffen. Das Knistern des Lagerfeuers war für eine Weile das einzige Geräusch, das man hören konnte.

Als die Überraschung leicht nachließ, rannten einige Magier zu Stella und versuchten, sie mit Heilzaubern zu behandeln. Die Walküre reagierte jedoch nicht. John ging zu ihr und hockte sich betrübt neben die Frau.

Das Ganze kam ihm unwirklich vor.

"Du… Was hast du getan!?" fragte Carson wütend und trat vor.

"Ist sie…?" Neve wollte die Frage stellen, war jedoch zu schockiert, um sie zu beenden. Die Antwort war offensichtlich, da die Zauber der Heiler wirkungslos blieben, doch Neve konnte es einfach nicht fassen.

[Warum? Wie!?]

"Halt, halt", sagte Neve und trat näher, "lass mich…"

"Wenn du noch einen Schritt machst, vernichten wir dich und die anderen, Neve", warnte Thomas.

Carson erhob lauter seine Stimme: "Was soll das hier!?"

"'Du', hm? Du kennst nicht einmal meinen Namen", entgegnete Thomas spöttisch. "Natürlich, warum auch? Ich bin nur ein unbedeutender Attentäter, nicht wahr?"

"Pass auf", sagte Allen und ging an John vorbei, indem er zwei Dolche zog, "ich weiß nicht, was dich dazu gebracht hat, aber wenn du einen Kampf willst, bin ich dabei."

"… Seid ihr alle auf einen Kampf aus?" fragte John leise und drohend die Leute hinter Thomas, ohne seinen Blick von Stellas Körper abzuwenden.

Keiner von ihnen sah so entschlossen aus wie er, aber sie alle blieben in ihren Positionen und hielten die Waffen bereit.

Neve blickte ungläubig hin und her.

[Was zum Teufel ist hier los?]

"Also gut." John legte Stellas Körper vorsichtig ab, stand auf und zog seine beiden Schwerter.

"Stopp, stopp, halt", trat Carson vor, die Hände erhoben. "Leute, denkt doch mal nach! Wir befinden uns mitten in einem Dungeon, dem wichtigsten Dungeon der Menschheit, und denken daran, uns gegenseitig zu bekämpfen? Warum seid ihr…"

"Ihr. Wisst. Warum", sagte Thomas fest und ließ keinen Raum für eine Antwort. "Glaubt ihr, wir wissen nicht, warum die Monster, denen wir begegnet sind, so stark sind? Wie dumm haltet ihr uns?"

Das brachte Carson zum Innehalten.

"Diese zwei Kämpfe, die wir durchlebt haben, wurden uns von den Mächten des Bösen aus einem Grund aufgezwungen," erklärte er und deutete auf John. "Denn dies ist die eigentliche Prüfung."

Thomas verengte die Augen, als er die hochrangigen Spieler vor ihm fixierte. Seine Entschlossenheit war unerschütterlich.

"Die Mächte des Bösen wollten, dass wir das sehen. Als die Einheitsprüfungen begannen, war die Menschheit für eine kurze Zeit perfekt. Es gab keine Diskriminierung mehr, keine Ungerechtigkeit, kein Böses. Nur Menschen und der Wille zu überleben. Wahre Gleichheit und Chancengleichheit. Doch als wir in die finale Herausforderung kamen, wurde mir klar, dass sich unterwegs etwas verändert hat."

Er drehte sich um und sah die anderen an. Sein Blick streifte sogar Neves entsetztes Gesicht.

"Menschen begannen, nach Macht zu streben. Macht, die sie nicht haben sollten. Und das hat die Dinge ungerecht gemacht. Jetzt gibt es eine neue Art von Ungerechtigkeit. Und *das* will uns die finale Herausforderung sagen. Sie zeigt uns, dass Menschen wie ihr, Menschen mit der Art von Macht, die die Welt ungerecht machen kann, nicht existieren sollten. Und der einzige Weg für die Menschheit, voranzukommen, führt über euch."

"Hey, die Rede war zwar schön und gut, aber können wir nicht einfach zum Kämpfen kommen? Mir werden die Hände kalt", sagte Allen und wirbelte seine Messer.

"Stella allein hätte die Hälfte von euch niedermachen können, wenn ihr sie nicht angegriffen hättet, als sie sich umdrehte", murmelte John verbittert. "Ich frage euch ein letztes Mal. Seid ihr sicher, dass ihr alle durch unsere Hand sterben wollt? Denn ich werde keinen von euch verschonen, wenn das euer Wunsch ist."Viele von uns mögen sterben", antwortete Thomas schnell. "Aber die, die übrig bleiben, werden die letzte Herausforderung so abschließen, wie es gedacht war. Durch die Schwächsten unter uns, doch mit den stärksten Herzen. Diejenigen, die fähig sind, sich Menschen wie euch entgegenzustellen."

"Das ... das ist Wahnsinn", sagte Carson noch verzweifelter. "Denk doch an das, was ihr hier tut!"

"Das haben wir, und unsere Entscheidung steht fest. Du jedoch kannst immer noch wählen."

Thomas richtete diesen letzten Satz nicht an die hochrangigen Spieler vor ihm. Nein, er wandte sich dabei an Neve. Diese Worte waren für sie bestimmt.

"Entscheide dich", fügte er hinzu. "Auf wessen Seite stehst du?"

Carson, der noch immer nahe bei Neve stand, gab den Versuch, sie zu überzeugen, auf.

"Also ist es so weit?" fragte er mit leiser Stimme.

Daraufhin wandte er sich an Neve und sagte:

"Du solltest mit ihnen gehen."

Das Knistern des Feuers im Hintergrund war beinahe lauter als seine Stimme.

"Was?" fragte Neve. "A-Aber..."

Carson lächelte sie an.

"Mach dir keine Sorgen", sagte er, während er sein Inventar durchstöberte und seine Äxte aus einem holographischen Fenster zog, "ich werde dir nichts nachtragen."

Dann stürzte er sich in einem Sekundenbruchteil auf Thomas zu.

"Ah!" schrie Thomas auf und im selben Moment wurde der Attentäter unsichtbar. Neves Augen weiteten sich.

Carson schwingte seine Äxte durch die Luft, dort wo Thomas gestanden hatte, aber es schien, als hätte er nichts getroffen.

Dennoch löste dieser Angriff ein Massaker aus.

Beide Seiten prallten aufeinander. Die Spieler niedrigeren Levels taten ihr möglichstes, die höherstufigen zu überschwemmen. Fast schneller als Neve sehen konnte, schleuderte Allen Messer in die Brust von vier von ihnen. John stürmte vor und riss mehrere Feinde in Stücke. Blut spritzte in alle Richtungen, als er sich einen Weg durch die Gruppe niedriger Stufen bahnte. Carson wirbelte herum und zerteilte ein Paar niedrigstufige Panzerspieler, indem er sie mit seinen Äxten beinahe in zwei Hälften spaltete.

Neve konnte nichts weiter tun, als entsetzt zuzusehen. Weder ihre Hände noch ihre Beine bewegten sich, als sie sah, wie eine Person nach der anderen starb. Die Spieler metzelten sich in einem Rausch gegenseitig nieder.

Das Gemetzel vor ihren Augen war jedoch nicht vollkommen einseitig.

Es dauerte nicht lange, bis die Taktik der Spieler mit niedrigen Stufen Früchte trug.

Einer der Spieler höheren Levels, eine weibliche Attentäterin, schaltete zwei Panzerspieler mit schnellen Stichen in den Bauch aus, war aber zu langsam, um auf einen dritten angreifenden Panzerspieler niedriger Stufe zu reagieren, der sein Schwert in ihre Seite stieß.

Einige magiekundige Spieler hoher Stufe im Hintergrund versuchten, ihre Verbündeten zu heilen und gleichzeitig eine Barriere zum Schutz vor Wurfgeschossen aufrechtzuerhalten, aber ein Hagel einfacher, für Anfänger gedachter Feuerbälle gelang es schließlich, ihre Verteidigung zu durchbrechen und sie lange genug abzulenken, damit die Masse der Spieler sie überwältigen konnte.

Es war eine Szene, die Neve schon oft gesehen hatte, nur nicht so. Die Spieler wirkten wie eine Horde Goblins, die ihre Gegner durch schiere Übermacht zurückdrängten und auf sie einstachen, als sie am Boden lagen.

Das war zu viel. Dieser Anblick war der letzte Anstoß, den Neve brauchte.

Sie konnte nicht einfach dastehen und zusehen.

[Das ist Wahnsinn! Ich muss eingreifen], dachte sie. [Ich muss…]

Doch in dem Moment, als sie einen Schritt nach vorn tat, spürte sie eine Klinge an ihrem Hals.

"Hast du vergessen, was ich sagte?" fragte eine vertraute Stimme an ihrem Ohr. "Keinen Schritt weiter."Neves Lippen zitterten, während sie regungslos in Position verharrte. Der kalte Stahl schob sich vorwärts, an ihre Kehle gepresst, während eine Hand ihren linken Arm festhielt.

„Ob Level 20 oder nicht, von hier aus könnte ich dich mühelos töten", war die letzte Warnung, die sie hörte.

Vor ihr konnte sie die drei hochstufigen Spieler sehen, wie sie verzweifelt versuchten, jeden Feind in ihrer Umgebung niederzustrecken. Sie wirkten wie unbesiegbare Riesen, als sie ein Ziel nach dem anderen ausschalteten, doch ihr Tempo verlangsamte sich.

Neve schluckte schwer.

„Ihr … Ihr könnt doch nicht ernsthaft glauben, dass das funktionieren wird", murmelte sie mit zitternder Stimme.

„Als hätten wir eine Wahl", antwortete er. „Ich habe es in deinen Augen gesehen, als ich jenen Tyrannen gegenüberstand. Du hast es genau wie ich erkannt – das ist unsere einzige Chance zu überleben."

Das Schlimmste daran war, dass in Thomas' Stimme kein Hauch von Bösartigkeit lag. Es schien, als glaubte er wirklich an seine eigenen Worte, und das machte Neve nur noch wütender.

„Selbst wenn ihr sie alle tötet und die Monster auf eure Stufe herabgesetzt werden, bedeutet das nicht, dass ihr oder diese Spieler über die nötigen Fähigkeiten verfügt, um die letzte Herausforderung zu bestehen!"

Spieleranzahl: 44

Spieleranzahl: 38

Spieleranzahl: 32

Ein Sinfonie aus Schreien und Rufen bildete die düstere Untermalung für die stetig sinkende Zahl der noch lebenden Spieler.

„Wie sich herausstellt", entgegnete Thomas. „Wenn meine Theorie stimmt und dies der wahre Test war, eine Prüfung unseres Willens, dann wird der Rest der letzten Herausforderung ein Kinderspiel sein. Denn das ist es, was die höheren Mächte von uns verlangen."

„Und wenn du dich irrst?"

„… Ich glaube nicht, dass das möglich ist", erwiderte Thomas. „Ich habe es dir gesagt, richtig? Die Einheitsprüfungen waren stets fair. Ich glaube nicht, dass sie jetzt beginnen würden, unfair zu sein. All dies ist beabsichtigt, und ich habe es verstanden."

Wie zu erwarten, waren es John, Carson und Allen, die als hochstufige Spieler am längsten durchhielten.

Doch als ihre Verbündeten fielen, sah Neve, dass sie alle schwer verletzt waren.

Carson wurde zu Boden gerungen, als ein Mann die Rückseite seines linken Beins aufschlitzte. Er versuchte, den Mann mit seiner Axt zu treffen, doch eine Frau schoss ihm einen Pfeil in die rechte Schulter. Mehr und mehr Spieler umringten ihn, bis Neve den Mann durch ihre Körper nicht mehr sehen konnte, doch sie hörte seinen Schrei, der plötzlich verstummte.

Allen fiel schlussendlich, als eine Reihe von Eiszaubern ihn zu Fall brachten und einige Assassinen die Chance nutzten, ihn zu erledigen, während er am Boden lag.

Schließlich war John Dulan, der goldene Drache von Level 41, der letzte hochstufige Spieler, der einer Horde von niedrigstufigen Feinden gegenüberstand.

Aber Neve sah, dass er schwer atmete und allem Anschein nach kein Mana mehr hatte, da er keine Fähigkeiten mehr einsetzte.

„Insekten", murmelte John, „jeder Einzelne von euch."

Er wollte seine Hände heben und weiterkämpfen, woraufhin sich einige Spieler niedriger Stufe zurückzogen, aber dann ließ er seine Schwerter fallen.

Und Thomas ließ Neve frei.

„Es scheint, das ist das Ende. Wie ich bereits sagte, macht keinen weiteren Schritt", warnte er ein letztes Mal, bevor er auf John zuging.

Die erschöpften Spieler niedriger Stufe ließen ihre Waffen fallen, genau wie John, als Thomas sich näherte.

Es waren so viele Spieler auf beiden Seiten gefallen, dass der Boden nahezu unwegsam wurde und von den vielen Leichen übersät war. Thomas musste sich um mehrere Leichen, abgetrennte Arme, Köpfe und Beine winden, um zu John zu gelangen.

Als er ankam, erhob er die Hände und hielt das Schwert, das zuvor an Neves Hals gedrückt worden war, hoch in die Luft – eine einfache, vom Rost angefressene Eisenklinge für Anfänger.

„Ich danke euch allen, für das, was ihr heute getan habt."Neve sah, wie der Schweiß von Johns Gesicht herabtropfte und auf den Dreck unter ihm fiel. Seine Augen wirkten leer, als hätte er sich bereits ergeben. Vielleicht hatte er Neves Blick gespürt und schaute kurz zu ihr, bevor er den Kopf wieder senkte.

"Neunmal hat die Menschheit versucht, die letzte Herausforderung zu meistern. Alle neun Male sind wir gescheitert. Warum, glaubst du, ist das so?"

Langsam griff John nach einer der Klingen, die er fallen gelassen hatte. Thomas blieb ihm den Rücken zugewandt.

"Es liegt daran, dass keiner dieser Gruppen den Willen hatte, allein zu überleben. Sie waren alle lächerlich abhängig vom Stärksten unter ihnen. Heute Abend habt ihr bewiesen, dass ihr vielleicht schwächer seid, aber eure Herzen könnten genauso gut aus Diamant sein. Und das ist der Grund, warum wir die Gruppe sein werden, die Erfolg hat."

Johns Hand umschloss den Griff eines Schwertes.

"Deswegen werden wir die letzte Herausforderung meistern."

John hob es leicht an.

"Und deshalb..."

John versuchte, Thomas von hinten zu erstechen.

Der Mann wich zur Seite, der Klinge ausweichend. Johns Erschöpfung verhinderte, dass er seine sonstige Geschwindigkeit demonstrieren konnte.

Dann stieß er das Schwert gelassen durch Johns Kehle.

"…werden wir das Andenken all derer ehren, die heute gefallen sind, wenn wir siegreich auf der letzten Ebene stehen."

John ließ sein Schwert fallen. Thomas zog seine Klinge heraus, und John stürzte zu Boden.

In diesem Moment starb der Repräsentant des Goldenen Drachens, der einzige Spieler der höchsten Stufe, der gekommen war, um die letzte Herausforderung zu bestehen, der Mann, der auf dem Schlachtfeld am meisten geglänzt hatte, durch die Hand eines Schurken der Stufe 8.

Keiner der Spieler niedrigerer Stufen feierte. Sie alle schienen von der Tragweite ihrer Tat erschüttert, aber keiner schien allzu traurig zu sein.

Für Neve sah es so aus, als hätten sie einen besonders schwierigen Dungeon überstanden. Nicht so, als hätten sie gerade Dutzende unschuldige Menschen getötet.

"Kommt alle", sagte Thomas. "Jetzt, wo die höherstufigen Spieler tot sind, werden die nächsten Ebenen wahrscheinlich so einfach sein, dass wir sie in einer Nacht schaffen können. Nehmt, was ihr von ihren Körpern gebrauchen könnt. Wir werden nicht viel aufsteigen, also nehmt nichts, was nur Platz in eurem Inventar wegnehmen wird. An alle", sagte er, sich vor die Menge stellend, "einige der Menschen, die wir heute getötet haben, waren Helden. Aber sobald die Menschheit ihre dringend benötigte Ruhe erhält und uns aus dem Jenseits zusieht, werden sie verstehen, dass wir dies tun mussten. Und wir werden ihnen angemessene Begräbnisse bereiten, sobald wir diesen Ort verlassen haben. Doch jetzt müssen wir konzentriert bleiben. Kommt, nehmt, was ihr wollt, und lasst uns aufbrechen."

Einer nach dem anderen begannen die Spieler, die Leichen nach Beute zu durchsuchen. Neve beobachtete ein Mädchen, das sich einem Mann näherte, der fast halbiert worden war. Sie würgte, durchsuchte sein Inventar, nahm seine Kleidung und schloss das Inventar schnell wieder, vielleicht weil sie den Anblick nicht länger ertragen konnte. Die anderen Spieler waren gleichermaßen zurückhaltend und erledigten die Aufgabe so schnell wie möglich.

Neve blieb währenddessen unverändert an ihrem Platz.

Als die Spieler die Sicherheitszone verließen und erneut den zweiten Stock betraten, ging Thomas erneut an Neve vorbei. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Neve blickte zu ihm auf.

Stufe 23

MP: 130/130

"Lass es eine Nacht sein", sagte er. "Denk logisch darüber nach, und du wirst unsere Lage verstehen. Das verspreche ich. Wenn du das getan hast, kannst du gerne zu uns kommen. Wir werden dich, einen Mitspieler niedriger Stufe, mit offenen Armen willkommen heißen."

Dann ging er weg.

Sie brach zusammen, als ihre Beine nachgaben.

Tränen kullerten über ihre Wangen, während sie auf die vielen Leichen vor sich starrte.

Sie war dabei gewesen, hatte alles gesehen, hatte dieselbe kalte Klinge gespürt, mit der Thomas John getötet hatte, auf ihrer eigenen Haut, und doch konnte sie nicht glauben, dass all dies geschehen war.