Der Lycankönig erzählt:
Plötzlich bin ich aufgewacht.
Diese Jahre hindurch wurde ich immer wieder vom selben Traum heimgesucht.
Wegen jenes Unglücks hatte ich meine Tochter verloren. Ich konnte nichts tun außer hilflos zu weinen.
Vielleicht lag es am Überdruck der letzten Zeit, aber ich träumte von Dingen, die ich lange nicht mehr im Traum gesehen hatte: dem Wald, dem See, dem Klang von traurigem Weinen.
Ich erhob mich mit dem Vorsatz, dort spazieren zu gehen, in den Wald, wo meine Tochter verschwunden war. Zu Beginn war es eine vage Hoffnung, doch nach langem Suchen wurde sie zur Gewohnheit. Immer, wenn ich traurig war, begab ich mich in den Wald, so als sei mein Kind noch immer bei mir.
Doch heute fühlte sich alles anders an.
Meine Brust schlug heftig, während ich lief. Ich war unerklärlich aufgeregt und rastlos, ganz untypisch für den Lycankönig. Es war wie eine Unheil verheißende Vorahnung. Mein Unwohlsein erreichte seinen Höhepunkt, als mir einige törichte kleine Tiere über die Beine stolperten.
Solch kleine Wesen hatten hier nichts zu suchen. Normalerweise liefen sie fort, sobald ich auftauchte. Aber heute schienen sie verwirrt herumzuirren. Ich folgte ihrem Weg.
Was es auch war, es durfte sich nicht in meinem Gebiet breitmachen.
Ich schlug mich durch Gebüsche und Wald, und ein starker Orchideenduft erfüllte die Luft.
Kein anderer Wolf als ein Lycan trug diesen Duft bei sich. Es war ein Geschenk der Mondgöttin, das die Lycaner von den anderen Wölfen unterschied. Dieser reine Duft konnte nur von jemandem aus meiner direkten Blutlinie stammen.
Meine Tochter war vor mehr als zehn Jahren von mir gegangen. Meine Frau und ich hatten lange nach ihr gesucht, doch unsere Hoffnungen wurden immer enttäuscht.
Eine unrealistische Fantasie umnebelte meinen Verstand. Ich war schwindlig, aufgeregter und benebelter als nach einer durchzechten Nacht.
Der Orchideenduft führte mich ans Ufer des Sees. Ein hässliches Ungeheuer entblößte seine Zähne und wollte sich auf die Gestalt im See stürzen. Ich handelte, ohne zu zögern, und stieß es fort.
Die Kreatur lief mit eingezogenem Schwanz davon.
Mein Blick war fest auf das Mädchen im See gerichtet. Ihr Gesicht war blass, ihr Atem so schwach, dass ich ihn kaum wahrnehmen konnte. Selbst mit geschlossenen Augen waren ihre Lippen zusammengepresst.
Mein Herz schlug wie wild. Wenn meine Tochter noch leben würde, wenn ich sie wiedersehen könnte, wäre sie jetzt in etwa in diesem Alter.
Der Duft an ihrem Körper schwächte sich ab, und ich trug sie ohne nachzudenken zu meinem Rudel.
"Liebe Mondgöttin, bitte lass nicht zu, dass ein Vater seine Tochter nur bei einer Beerdigung umarmt."
Ich rannte so schnell ich konnte. Nach dem Krieg hatte ich mich selten so erschöpft gefühlt. Mein Zittern bemerkte ich erst, als der königliche Arzt sie ablegte.
Die Diener blickten mich irritiert an, als sei ich verrückt geworden. Ja, ich glaube, ich war nahe am Rand des Wahnsinns.
"Mein König, Ihr solltet Euch vielleicht ausruhen." Sie halfen mir, meine nassen Kleider zu wechseln.
"Geht und informiert die Königin... Nein. Ich werde es ihr sagen, sobald sie erwacht. Ich will ihr keinen falschen Trost bereiten."
"Mein König, ich möchte nicht stören, aber dieses Mädchen ist so plötzlich erschienen. Könnte es sein, dass..."
Ich beruhigte mich und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Gesicht und den Duft des Mädchens, die denen der Königin zum Verwechseln ähnlich waren. Ich kannte die Antwort. Zweifellos war sie meine Tochter.
"Tracy, betrachte sie genau. Ihr Aussehen könnte man täuschen, doch ihr Duft ist das einzigartige Merkmal, das uns die Mondgöttin gewährt hat. Zweifellos ist sie meine Tochter."
Noch vor Jahren hätte niemand gedacht, dass das Unglück meiner Tochter dazu führen würde, dass sie aus den Armen ihrer Eltern gerissen wird. Meine Frau tupfte sich täglich die Tränen ab, während ich in denselben Alpträumen gefangen war, mich selbst Vorwürfe machend, sie nicht beschützt zu haben.
"Aber sie kehrte zurück. Es war wie ein Wunder. Sie erschien urplötzlich vor mir. Es muss ein Geschenk des Himmels sein."
"Mein König, Ihr müsst Euch vielleicht darauf einstellen." Die Worte des Arztes rissen mich jäh aus meiner schönen Vorstellung.
Ich war so glücklich, dass ich vergessen hatte, dass sie noch nicht aufgewacht war und immer noch gegen den Tod ankämpfte.
"Koste es, was es wolle, Ihr müsst sie retten", flehte ich zitternd.
Ich war nicht mehr der erhabene, mächtige König, sondern ein Vater, der seine Tochter verloren hatte.
Nach einer langen, quälenden Wartezeit überbrachte mir der Arzt endlich gute Nachrichten.
"Der Prinzessin geht es gut." Mit müdem Lächeln und strenger Miene wies er mich an, Platz zu machen: "Ihr müsst Euch ausruhen und Platz für Ihre Hoheit lassen. Sie fiel aus großer Höhe und wird nicht so bald genesen."
Widerwillig verließ ich den Raum. Es gab noch so vieles zu erledigen.
Gleichzeitig war ich froh, es meiner Frau noch nicht erzählt zu haben. Wäre sie hier, hätte sie womöglich vor Schock das Bewusstsein verloren. Der Vorfall lag schon so viele Jahre zurück, doch nie hatte sie diesen schrecklichen Albtraum überwunden oder sich auch nur einen Tag lang vergeben oder geschont.