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Chapter 14 - Herr Hase

Angor machte eine Drehung in der Luft, um eine bessere Aussicht zu haben. Dieses Mal sah er den Mann, der am Tisch saß... oder eher nicht. Angor konnte es von seinem Aussehen her nicht als "Mann" bezeichnen.

Um genau zu sein, war es ein kleines Kaninchen in der Kleidung eines Gentlemans. Sollte er es Mister Bunny nennen?

Es war weniger als einen halben Meter groß, mit einem reinen, schneeweißen Fell und langen Ohren, die innen in einem blassen Rosa schimmerten und mit weichen Fransen verziert waren. Seine Augen glänzten in der Farbe eines purpurroten Edelsteins, eingebettet in den niedlichen kleinen Kopf. Diese Ohren waren fast so lang wie sein eigener Körper. Wäre da nicht das seltsame Outfit gewesen, wäre es einfach ein überaus süßes Häschen, bei dessen Anblick jedes Mädchen jauchzen würde.

Auch Angor hätte sich in das Wesen verliebt, wenn die Umstände anders gewesen wären. Nun hatte er jedoch seine Wachsamkeit erhöht und war nicht mehr in der Stimmung, die Niedlichkeit des Kaninchens zu bewundern.

Die meiste Aufmerksamkeit schenkte Angor Mister Bunny selbst.

Es trug nichts am Unterkörper. Stattdessen zierte seine Gestalt ein Frack mit Spitzenbordüren und roten Rautenmustern. Ein schwarzer Zylinder saß zwischen den Ohren, und am Rand des Hutes baumelte ein kleines Abzeichen mit einem lächelnden Gesicht. Das markanteste Stück war das kleine, goldumrandete Monokel über einem seiner Augen, das dem entzückenden Hasen eine gewisse gentlemanhafte Ausstrahlung verlieh.

Mister Bunny saß nicht auf dem Stuhl, wie Angor zunächst dachte. Es schwebte vor dem Tisch und hatte seine Augen fest auf ein dickes, violettes Buch gerichtet, das auf dem Tisch lag.

Angor umkreiste Mister Bunny und stellte fest, dass er keine Notiz von ihm nahm, genau wie die anderen Kreaturen. Wahrscheinlich war das Kaninchen einfach zu sehr in sein Buch vertieft und hatte den plötzlichen Besucher nicht bemerkt.

Nachdem er einige Zeit durch den Saal gestreift war, wuchs Angors Neugier auf diese Welt nur noch mehr.

War dies wirklich eine Parallelwelt? Hatte er gerade eine Transmigration durchlebt? Er fand darauf keine Antwort. Was noch wichtiger war, er war sich nicht mehr sicher, ob er die Talentprüfung bestanden hatte.

Während er mit all der Verwirrung rang, schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.

Nein, der Gedanke kam so abrupt, dass Angor nicht einmal wusste, ob es sein eigener war oder von jemand anderem stammte. Die Idee suggerierte ihm, zurück zum Schrank zu gehen.

Zurück zu dem Schrank, durch den er hierher transmigriert war... Das war alles, was die Idee ihm verriet.

Ohne Zweifel stimmte Angor der Idee zu. Er war sich nicht sicher, woher sie kam, aber er vertraute seinem Instinkt.

Als er sich umdrehte, um die Halle zu verlassen, hörte er nicht weit von sich das Rascheln von Blättern durch Mister Bunny.

Angor drehte sich um, das violette Buch zu betrachten, das das Kaninchen las und hielt aus unerklärlichen Gründen inne. Geräuschlos schwebte er zu Mister Bunny hinüber und nahm das Buch in Augenschein.

Das Buch stand auf dem Tisch. Das Cover war deutlich erkennbar. Nichts Besonderes, fast wie ein Liebesroman, den adelige Damen lieben würden.

Oben befand sich eine Reihe seltsamer Symbole, die Angor nicht entziffern konnte. Wahrscheinlich der Titel. Darunter zeigte sich ein in Cartoon-Manier gezeichnetes Bild: ein schlicht skizziertes Schloss im Hintergrund und im Vordergrund ein verschwommenes Mädchen mit roter Mütze, langen, lockigen braunen Haaren, einem blauen Rock und weißen Schuhen. Die Gesichtszüge und ihre Kleidung waren kaum detailliert, fast als wäre es von einem Kind gezeichnet. Die Farbwahl war jedoch beeindruckend.

Ein Schloss und ein Mädchen... Waren das etwa eine der "Prinzessinnengeschichten", die der Lehrer immer erzählt hatte?

Alle Gutenachtgeschichten, die Angor kannte, wurden ihm von Jon erzählt, als er noch klein war. Die meisten handelten von altertümlichen Figuren und sollten ihm menschliche Tugenden lehren. Ein kleiner Teil davon waren Grimms Märchen. Angor mochte sie nie besonders, aber einige Namen erinnerte er sich noch, wie die berühmten Geschichten von "Schneewittchen" und "Aschenputtel".

Deswegen dachte Angor sofort an diese Märchen, als er das mädchenhaft gezeichnete Cover sah.

Lange verweilte er jedoch nicht beim Cover. Er konnte es ohnehin nicht lesen, also schwebte er hinter Mister Bunny und begann, das Buch zu lesen.

Jetzt sah er zum ersten Mal den Innhalt des Buches – es war ein Bilderbuch.

Angor verstand keines der Worte, aber er konnte die Geschichte anhand der Bilder nachvollziehen.

Es schien sich um ein Märchen zu handeln.

Ein Mädchen gelangt in ein fremdes Land. Sie konnte Wein trinken, um klein wie eine Ratte zu werden, oder Kuchen essen, um riesengroß zu werden. Es gab eine Schüssel mit Pilzsuppe; wenn sie vom linken Rand trank, schrumpfte sie, wenn sie vom rechten trank, wuchs sie. Mit all diesen Überraschungen begann das Mädchen eine erstaunliche Reise mit merkwürdigen Geschöpfen.

Angor genoss die Geschichte. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er schob das Gefühl beiseite und las weiter.

Die Zeit verging. Die Dinge um ihn herum wurden immer seltsamer, doch Angor nahm davon nichts wahr.Erstens blätterte Mister Bunny die Seiten in Angors Lesetempo um. Dann kamen die Plüscheulen, Pokersoldaten, Häschen-Teebecher und Regenbogenlibellen auf der anderen Seite des Flurs um ihn herum. Angor war jedoch völlig von der schönen Reise in der Geschichte angezogen und nahm seine Umgebung gar nicht wahr.

Angor nahm sich keine der Abnormitäten zu Herzen. Stattdessen brachte er freudig seinen eigenen Geist mit dem Mädchen in der Geschichte zusammen.

Angor fühlte sich selbst als Hauptfigur der Geschichte und rannte einem sprechenden Hasen hinterher.

Alles war wunderschön. Alle Lebewesen hier sahen seltsam aus, aber sie waren alle freundlich gesinnt. Angor dachte sogar, dass dies das Wunderland war.

Während er noch in die wunderbare Welt eintauchte, ertönte aus dem weit entfernten Schloss ein scharfes Gackern.

"Oh nein, die Herzkönigin ist hier! Shava, du musst verschwinden, sonst verwandelt dich die Königin in eine Karte!", drängte der sprechende Hase.

Die Herzkönigin? Weggehen? Shava?

Angor starrte alles mit einem leeren Gesicht an.

Wer ist Shava? Ich bin Ango-An-Huh? Und wer bin ich?

Er merkte, dass etwas nicht stimmte.

Er erinnerte sich daran, dass er den Hasen im Frack im Schloss gesehen hatte, und der Hase war - warte, was machte der Hase?

Die schöne Reise in Angors Kopf zerbrach augenblicklich in Stücke. Er wusste, dass er etwas vergessen hatte, und er wusste, dass er sich daran erinnern musste!

Er schrie mit seinem Verstand, aber sein Gedächtnis zerfiel immer weiter, bis er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, was er vor einer Sekunde getan hatte.

"Eeeeheeheehee-"

"Shava, was machst du da? Lauft! Die Königin kommt!" Der Hase zerrte an Angors Hand. "Das ist gefährlich, du musst zu meinem Kaninchenbau gehen, um zu entkommen!"

Dann wurde Angor unbewusst von dem Hasen weggeführt.

Die Berge in der Ferne leuchteten immer noch grün, aber all die Fantasien trugen nun eine leblose Fremdheit in sich.

"Mein Kaninchenbau ist gleich dort. Steig hinein und lass mich mit der Königin fertig werden", sagte der Hase, bevor er Angor schubste.

Angor fiel mit einem Stolpern auf den Boden.

Das Kaninchen drängte ihn immer noch, in das Loch zu gehen, aber plötzlich wurde Angor wach.

"Geh zurück in den Schrank."

Die Nachricht tauchte plötzlich in seinem Kopf auf.

Der Schrank? Angors einst ausdrucksloser Blick wurde scharf. Er erinnerte sich an den Schrank! Er erinnerte sich auch daran, dass er seinen Talenttest gemacht hatte und ohne Grund in eine seltsame Parallelwelt gefallen war, und ein... ein Lesehäschen!

Als ihm das alles bewusst wurde, veränderte sich die Welt um ihn herum. Alles wurde zum Nichts.

Das "Kaninchenloch" wurde durch einen blutigen Schlund mit scharfen Reißzähnen ersetzt. Das niedliche Häschen hinter ihm verwandelte sich ebenfalls in eine zerfledderte Stoffpuppe, die mit Flicken übersät war.

Angor wich zurück und rannte dann schnell von dem Schlund weg.

Als er den Bereich verließ, fand er sich in der Halle wieder, in der Mister Bunny war.

Er war jedoch nicht mehr so entspannt wie zuvor, denn er bemerkte gerade, dass eine Gruppe von Kartensoldaten ihn umzingelt hatte...