Nick kratzte sich nachdenklich am Kinn.
Die Ratte beobachtete Nick mit Interesse.
"Kein Interesse", sagte Nick nach kurzer Zeit.
"Ach komm schon", rief die Ratte, traute sich aber immer noch nicht aus ihrem kleinen Loch hervor. "Es sind nur fünf Leichen! Du musst sie nicht einmal selbst töten!"
"Nein, Töten ist verboten", erwiderte Nick.
"Und?", fragte die Ratte. "Wen interessiert das?"
"Mich", sagte Nick. "Ich bin jetzt ein echter Zephyx-Extraktor. Ich kann mich nicht mit solch zwielichtigen Geschäften abgeben."
Die Ratte blinzelte sehr langsam.
"Was?", fragte sie ungläubig und tonlos. "Extraktoren töten die meisten Leute. Sie können im Grunde nehmen, wen sie wollen, sie müssen nur eine Strafe dafür zahlen."
Nick kratzte sich am Hinterkopf. "Ich verstehe, was du meinst, aber es gefällt mir nicht."
"Es kommt mir schmutzig vor."
Die Ratte schien nicht fassen zu können, was Nick sagte.
"Wovon redest du? Ich habe buchstäblich gesehen, wie du diesen Kerl von der Versicherungsbande getötet und seine Leiche in den Ruinen abgelegt hast!", schrie die Ratte.
"Ruinen?" fragte Nick.
"Die Kanalisation! Das Zeug unter den Gittern, auf denen du gehst!", schrie die Ratte genervt.
"Ach, das", sagte Nick. "Ja, ich habe ihn getötet, aber das war, weil er versucht hat, Informationen über mich zu sammeln. Das war Notwehr."
"Notwehr? Der Kerl hat sich nur dein Haus angesehen! Du hast ihm die Fresse poliert, bevor er überhaupt etwas tun konnte!"
"Ja, wie gesagt, Notwehr!" antwortete Nick genervt. "Er hat mich angegriffen, und ich habe mich entsprechend gewehrt."
Die Ratte kratzte verärgert am Gitter unter sich. "Okay, schön! Es war Notwehr! Dann geh doch raus, mach dir ein paar Feinde und verteidige dich selbst, bis du fünf Leichen hast!"
"Nein", entgegnete Nick.
Stille.
"Warum nicht?" fragte die Ratte.
"Ich möchte keine Menschen töten, die mir nichts angetan haben."
"Ich habe Prinzipien, weißt du!" rief Nick mit ernstem Ton.
"Prinzipien", wiederholte die Ratte missmutig.
"Ja, Prinzipien", bestätigte Nick.
"Gut", sagte die Ratte. "Dann kauf einfach fünf Leichen oder so. Dein Auftraggeber scheint ja Geld zu haben."
"Geht nicht", erwiderte Nick. "Wir dürfen die Leichen nicht behalten."
"Außerdem habe ich gehört, dass die ganze Stadt quasi nach dir sucht, und wenn jemand rausfindet, dass ich Leichen gekauft habe, um sie dir zu übergeben, würde mich die Stadt wahrscheinlich töten."
Die Ratte atmete tief durch.
"In Ordnung, in Ordnung", sagte sie. "Wie auch immer, mein Angebot gilt weiterhin. Wenn ihr je Interesse an Informationen habt, gebt mir ein paar Leichen. Es ist mir egal, woher sie kommen, solange sie menschlich und nicht von Schwester Alice getötet wurden, ist mir alles recht."
"Jedenfalls, viel Glück bei deiner Suche nach einem Gespenst ohne meine Hilfe", sagte die Ratte spöttisch, bevor sie sich wieder in ihr Loch zurückzog.
Als Nick das hörte, runzelte er erneut die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf.
Seine momentane Lage gefiel ihm wirklich nicht.
Gerade hatte der Parasit ihm die Möglichkeit aufgezeigt, ein Gespenst zu finden, doch er hatte abgelehnt.
Letztlich konnte Nick nur seufzen und seine Situation akzeptieren.
Als jemand, der sein gesamtes Leben in den Dregs verbracht hatte, war Nick natürlich ein sehr pragmatischer Mensch.
Natürlich hatte er das Angebot des Parasiten ernsthaft erwogen.
Aber egal, wie er sich das ausredete, Nick konnte es einfach nicht über sich bringen, dem Parasit zu helfen.
Der Parasit war ein Gespenst, das eine große Zahl an Menschen tötete.
Es suchte im Grunde die Schwachen heim.
Im Laufe der Jahre hatte Nick unzählige Male die riesige Pyramide betrachtet, die die Innere Stadt symbolisierte, und jedes Mal, wenn er den Unterschied zu den Dregs sah, fühlte er etwas Ähnliches.
Allein anhand der Funktionsweise des Steuersystems konnte Nick erkennen, dass die reichen Zephyx-Fabrikanten in der Inneren Stadt die schwachen und armen Menschen in den Dregs ausbeuteten.
Das erzeugte einen gewissen Hass auf Menschen, die Schwächere ausnutzten.
Wenn jeder nur ein wenig von seinen Besitztümern abgeben würde, gäbe es nicht so viele Sterbende in den Dregs.
Natürlich wusste Nick, dass dies eine sehr naive Vorstellung war. So etwas würde niemals geschehen.
Und doch, obwohl diese Vorstellung naiv war, war sie immer noch das, was Nick sich erhoffte.
Nick konnte die Welt nicht verändern, aber er konnte zumindest sein eigenes Leben nach seinen eigenen Grundsätzen führen.
Und Nick würde niemals die Schwachen ausnutzen.
Die Mächtigen, wie die Gangs ausnutzen, ja sicher, aber nicht die Wehrlosen.
Wäre es nicht einfacher, die Welt einfach so zu akzeptieren, wie sie ist, und sich treiben zu lassen?
Natürlich wäre es das.
"Aber ich brauche es nicht einfach", dachte Nick. "Ich bin stark genug, um Prinzipien zu haben."
Trotzdem warf Nick einen letzten Blick auf die Stelle, an der eben noch die Ratte gewesen war.
Er spürte ein wenig Bedauern.
Jemand mit Nicks Wissen und Stärke könnte wahrscheinlich fünf Leichen finden, ohne entdeckt zu werden.
Aber letztlich konnte Nick es einfach nicht tun.
Also setzte Nick seinen Weg durch die Gassen fort.
Schließlich wurde das Metall unter Nicks Füßen so unstabil, dass er innehalten musste.
Mittlerweile war Nick schon ziemlich nahe an der gigantischen Mauer, die die Stadt umgab.
Reihen silberner Kameras zierten den Mauerkranz und blickten in die Stadt hinein und hinaus.
Natürlich waren in diesem Moment auch einige Kameras auf Nick gerichtet.
Aber das war nichts Ungewöhnliches.
Nach einer Weile drehte sich Nick um und verließ diesen Teil der Dregs wieder.
Nick suchte einen anderen verlassenen Ort und setzte seine Suche dort fort.
Stunden vergingen.
Immer noch nichts.
Nick kehrte nach Hause zurück, aß etwas und ging schlafen.
Am nächsten Tag suchte er weiter.
Nichts.
Am folgenden Tag sprach er den ganzen Tag mit verschiedenen Leuten.
Niemand hatte etwas von Wert zu sagen.
Nick begegnete an diesem Tag auch einem Ermittler, der nur über ihn lachte.
Die Ermittler hatten bereits herausgefunden, dass Nick nach Specters suchte, und offensichtlich war er zu einer Art Witzfigur in ihren Kreisen geworden.
Es war für sie äußerst belustigend, dass irgendein Unbekannter aus den Dregs nach Specters suchte, während er es mit mehreren großen Firmen mit Hunderten von Angestellten aufnahm.
Nick sprach nicht mit dem Ermittler.
Ein weiterer Tag verging.
Und noch einer.
Und noch einer.
Nichts.
Nick fand absolut gar nichts.
Dennoch gab Nick nicht auf.
Er setzte seine Suche fort.
Es musste doch irgendwo etwas geben!
Wenn Nick nicht bald etwas fand, würde seine Zukunft erneut grau und leer werden.
Nick wollte etwas aus seinem Leben machen und dazu musste er etwas finden.
Er würde nicht aufgeben!
Egal, wie lange es dauerte!