Andere?
Aila hielt inne, folgte jedoch Kane weiter, nachdem er mit einem verwirrten Ausdruck über die Schulter zurückblickte.
„Es gibt mehr als nur einen Alpha und einen Beta als Anführer in einem Rudel. Zwar gibt es nicht viele – nur noch Gamma und Delta – aber wenn wir nicht gerade beschäftigt sind, essen wir meist gemeinsam zu Abend. Wir bleiben im Rudelhaus, wie eine Familie", erklärte Kane achselzuckend, bevor er sie an der Küche vorbeiführte und in ein großes Esszimmer geleitete, das durch ein riesiges Fenster den Blick auf einen anderen Teil des Anwesens freigab.
An der gegenüberliegenden Wand hing moderne Kunst, und über dem langen Esstisch, der Platz für zwanzig Personen bot, hing ein tief herabhängender Kristalllüster. Kane zog am äußersten Ende des Tisches einen Stuhl heraus und bedeutete ihr, Platz zu nehmen, doch sie wählte stattdessen einen Sitzplatz zwischen Ajax und Finn, was dem Beta die Stirn runzeln und tief durchatmen ließ. Ailas Aufmerksamkeit galt dann zwei Frauen, die den Raum betraten.
Die erste war eine Frau von ähnlicher Größe wie Aila, mit lockigem braunem Haar, das in schönen Wellen über ihre Schultern fiel, und dunklen, fesselnden Augen auf ihrer olivfarbenen Haut. Sie lächelte Aila an und ging dann zu Kane, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu geben.
Seine strengen Gesichtszüge entspannten sich sofort, als sie einander ansahen und Platz nahmen, immer noch liebevoll miteinander verbunden. Malia stellte sich krank vor und verdrehte die Augen – Aila fand es süß, dass der Beta jemanden hatte, auch wenn sie vermutete, dass sie sehr unterschiedlich waren. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich jedoch rasch auf die zweite Frau, die ihr gegenübersaß.
Sie war groß und schlank. Wäre da nicht ihr athletischer Körperbau, hätte Aila sie für ein Supermodel gehalten, mit ihrem kurzen schwarzen Bob, den dunkelblauen Augen und dem atemberaubenden Gesicht. Einzig zwei Narben unterbrachen ihre ansonsten makellose Haut: Eine Krallenschnittmarke quer über ihren Hals und eine weitere Narbe, die von ihrer Augenbraue bis zum unteren Teil ihres Auges verlief. Nicht nur ihr Aussehen ließ Aila aufhorchen, auch die einschüchternde Aura, die sie ausstrahlte.
„Sie muss eine Kriegerin oder so sein. Ich habe Angst, sie weiter anzustarren. Die Kerle sabbern wegen ihres Aussehens, aber die ‚bösen Blicke', die sie ihnen zuwirft, lassen sie fast in die Hose machen!", flüsterte Malia, offensichtlich besorgt, dass die Frau sie hören könnte. Aila kicherte leise über ihren Wolf.
Die Frau nickte ihr kurz zu, als sie anfing, das gebratene Fleisch in der Mitte des Tisches zu schneiden. Die Brünette schlug ihre Hand mit einem 'Tss' beiseite und strahlte Aila dann breit an: „Hey Aila, mein Name ist Nairi, ich bin Kanes Gefährtin. Es ist mir eine große Freude, dich kennenzulernen. Dies hier ist Chiara –"
„Gamma Chiara", unterbrach die beeindruckende Frau namens Chiara.Schön, euch beide kennenzulernen. Dies hier sind Ajax und Finn", sagte Aila und zeigte auf die Jungs neben sich. Sie lächelte Nairi und Gamma Chiara höflich an, aber die Gamma schien nicht an einem Smalltalk interessiert zu sein, denn sie schnitt sich bereits wieder Fleisch ab. Auch die Jungs neben ihr schienen nicht in Gesprächsstimmung zu sein, denn auch sie luden ihre Teller erneut voll.
Aila zuckte die Schultern und tat es ihnen gleich, fragte sich dabei aber, ob Alpha Damon vielleicht doch noch aufkreuzen würde. Doch wie Kane niemanden zum Warten aufforderte, ging sie davon aus, dass das nicht der Fall war. Erleichterung durchströmte sie, denn sie war noch nicht bereit, ihm gegenüberzutreten, und selbst wenn sie es müsste, war sie sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen oder seine Annäherungsversuche zu erwidern.
"Kein großes Dilemma, Aila. Du würdest ihm bestimmt an die Gurgel springen...", kicherte Malia, woraufhin Aila seufzte. Ihr Wolf war fast genauso schlimm wie sie, wenn nicht sogar schlimmer.
Aila nahm einen Bissen von ihrem Essen, als eine weitere, ihr vom Tag ihrer Rettung bekannte Gestalt den Raum betrat und sich neben Gamma Chiara setzte. Der rothaarige Mann, der ihre Silberketten entfernt hatte, musterte sie, bevor er etwas Kartoffelpüree auf seinen Teller gab.
"Darren", warnte Kane mit belegter Stimme. Der Rothaarige rollte mit den Augen, was Kane zu einem Knurren der Missbilligung veranlasste.
"Ja, ja. Wir kennen uns bereits. Aila, alles was du über mich wissen musst, ist, dass ich Delta bin, Delta Darren, und ich lasse mir von dir keine Befehle erteilen."
Gamma Chiara ließ ihr Besteck auf den Teller fallen. Das Geräusch ließ alle innehalten und zu ihr hinsehen. Ihr kalter Blick bohrte sich in den Delta. Er grinste sie herausfordernd an, was sie jedoch mit einem Lächeln und Wimpernklimpern erwiderte, bevor sie ihr Steakmesser ergriff und es mit einer solchen Wucht in seine ausgestreckte Hand stieß, dass die Klinge durch die Muskeln drang und auf dem Tisch stecken blieb.
Er schrie vor Schmerz auf, während das Messer aus seiner Hand ragte und Blut auf den Tisch tropfte. Aila und die anderen saßen fassungslos da und wechselten zwischen Schock und Unglauben ihren Blick zwischen den beiden hin und her. Die Gamma stand auf, packte ihn am Kragen seines Hemdes und brachte ihr Gesicht ganz nah an seins.
"Muss ich dir noch mehr Manieren beibringen?" knurrte sie ihm ins Gesicht, ihre Stimme glich der eines wilden Tieres. Delta Darren schüttelte den Kopf.
"Gut. Das nächste Mal werde ich auf deinen Schwanz zielen." Gamma Chiaras verführerisches Lächeln ließ Aila frösteln. Delta Darren erblasste, seine Augen traten fast aus den Höhlen. Gamma Chiara drehte ihren Kopf, um über ihre Schulter zu blicken, und zwinkerte Aila zu, bevor sie durch die doppelten Türen ging und rief: "Ich werde Alpha Damon und den anderen helfen."
"Ich mag sie", klatschte Malia, sichtlich angetan von der Gewaltaktion am Esstisch.Natürlich wusstest du das", bemerkte Aila mit einem gequälten Gesichtsausdruck, als sie beobachtete, wie Delta Darren das Messer aus der Hand schlug. Sie warf Kane einen Blick zu und sah, dass er sich nicht um die Vorkommnisse am Tisch scherte und sich wieder liebevoll mit seinem Begleiter unterhielt.
"War das in deinem Rudel auch so?", telepathierte Aila an Finn, während sie aus einem Glas Wasser trank.
Er wandte den Blick von Delta Darren ab, der sich ein Stück Brot schnappte und ohne ein weiteres Wort aus dem Raum stürmte. "Ich weiß, Anführer haben eine geringe Toleranz gegenüber Respektlosigkeit, aber selbst das war etwas extrem."
"Ich meinte das Ganze mit dem gemeinsamen Essen", antwortete Aila gelassen. Sie hatte die Szene, die sich eben ereignet hatte, schon abgehakt. Wäre dies jedoch vor zwei Wochen geschehen, hätte sie ganz anders reagiert, dessen war sie sich bewusst.
Finn sah sie an, als wäre sie verrückt geworden, doch dann blickte er wieder nach unten und spielte mit seinem Essen, um keinen Verdacht auf ihre geheime Unterhaltung zu lenken. Obgleich, wenn die anderen auf sie achteten, könnten sie an ihren leicht verträumten Augen erkennen, dass sie in Gedanken verbunden waren.
"Ich glaube schon. Ich war kein Teil der Führungsfamilien, also habe ich nicht im Rudelhaus gelebt", erklärte er und biss von seinem Teller ab.
"Rudelhaus?" Aila fragte ihn laut und veranlasste Ajax, zwischen den beiden hin und her zu blicken.
"Das hier ist das Rudelhaus, Aila", unterbrach Kane. "Wenn du mehr über Werwölfe erfahren möchtest, solltest du in die Bibliothek gehen."
Ajax schnaubte. "Ja, da findet man eine Menge erfundener Bücher darüber."
"Ich meinte die Bibliothek hier im Haus", betonte Kane genervt. Ajax hob überrascht seine Augenbrauen, sagte aber nichts weiter.
Aila hatte ganz vergessen, dass es im Haus eine Bibliothek gab. Sie erinnerte sich an eine frühe Kindheitserinnerung, wie sie auf dem Schoß ihrer Mutter vor dem großen Kamin saß. Aila las in einem Buch, während ihre Mutter ihr durch das Haar streichelte. Die Erinnerung brachte ihr Tränen in die Augen, und sie verließ den Tisch, um in ihr Zimmer zurückzukehren.
Auf halber Strecke die Treppe hinauf fühlte sie, wie ihr Kapuzenpullover zurückgezogen wurde, und sie prallte gegen eine feste Brust. Als sie aufblickte, begegnete sie einem Paar smaragdgrüner Katzenaugen, die auf sie herabschauten, bevor sie in eine Umarmung gezogen wurde.
"Wofür ist das?", flüsterte sie an seine Brust gedrückt.
"Du sahst aus, als könntest du eine Umarmung gebrauchen, Liebes. Es passiert gerade viel, aber denk daran, dass du Finn und mich hast, denen du vertrauen kannst. Du musst nicht alles allein schultern", sagte Ajax aufrichtig. Aila sah zu ihm auf und lächelte, dankbar dafür, einen Freund wie Ajax gefunden zu haben, auch wenn es unter ungewöhnlichen Umständen war.
"Räusper", hustete Kane künstlich und unterbrach das Duo, das auseinandersprang. Aila spürte Kanes fordernden Blick auf ihrem Gesicht.
"Alpha Damon wäre von dieser kleinen Zuneigungsbekundung nicht begeistert", tadelte Kane sie über ihre Gedankenverbindung.
"Sch*** auf den Alpha. Er hat keine Macht über mich", entgegnete sie trotzig, bevor sie in ihr Zimmer stürmte. Sie hörte sein Knurren, als sie die Tür hinter sich zuschlug.
"Lass uns hoffen, dass er das nicht erfährt", sagte eine erschöpfte Malia; ausnahmsweise ohne sarkastischen oder humorvollen Kommentar. Ihre Wolfsgefährtin hatte tatsächlich etwas Angst vor dem Alpha. In der Hierarchie der Wölfe bedeutete es, dass der Alpha ihnen ernsthaften Schaden zufügen konnte, um sie in die Schranken zu weisen, wenn sie zu sehr aus der Reihe tanzten und nicht mehr verletzt waren.
"Vermutlich hat Kane es ihm schon wie der gute kleine Schoßhund, der er ist, gesteckt", murmelte Aila zu ihr zurück. Sie lehnte an der Tür, seufzte, ließ sich auf ihr Bett fallen und blickte zum weißen Baldachin über sich auf.
Aila wusste nicht, wie weit sie gehen konnte, doch wie am ersten Tag ihres Treffens konnte sie fühlen, dass er ihr nie etwas antun würde. Eine Falte entstand zwischen ihren Brauen, als sie intensiver nachdachte; da war diese Ahnung, dass es Informationen gab, die ihr helfen würden, mehr über ihre Beziehung zum Alpha zu verstehen. Doch vorerst musste sie nur noch einen weiteren Tag vor ihm bestehen, ohne dass ihr Körper und Geist dahinschmolzen.