Adeline hätte rückblickend erkennen müssen, dass ihr Schicksal mit ihm verwoben war, in dem Moment, als sie versuchte, ihn zu erstechen.
"Kannst du nicht wenigstens lächeln?", zischte ihre Tante neben ihr. "Du wurdest zu diesem Ball eingeladen, um die Aufmerksamkeit des Königs auf dich zu ziehen, aber du ziehst ein Gesicht, als wärst du auf einer Beerdigung."
Adeline Rose senkte ihren Kopf und blickte auf den polierten Boden. Ihr Diadem rutschte. Als es aus ihrem blonden Haar glitt, fing sie es reflexartig auf. Es bemerkte niemand, und es war ihr egal.
"Auch wenn der König ein reinblütiger Vampir ist, solltest du dennoch versuchen, ihm zu gefallen. Wie du weißt, Adeline, ist er ein herzloser Mann. Biete ihm einfach deinen Hals an, und wir werden ein sorgenfreies Leben führen können."
Das heißt, wenn er sie nicht gleich an Ort und Stelle töten würde.
Adeline hatte die Geschichte vergessen, die so alt war wie die Zeit selbst. Vor einem Jahrhundert trat eine uralte Spezies hervor, deren Existenz nur in Märchen bekannt war. Sie verwüsteten die moderne Welt mit brutaler Kraft und betörender Schönheit. Ein Krieg begann zwischen den Menschen und den Vampiren. Es war die gleiche klischeehafte Geschichte von Gut gegen Böse.
Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.
Die Vampire herrschten über alles. Sie galten als die elitärste aller Rassen. Vampire übernahmen einschüchternde Positionen, von der monarchischen Regierung bis zu großen Konzernen.
Bald infiltrierten sie jeden Aspekt des Lebens.
"Mein Gott, wenn du nicht so trostlos aussähest, wie ein Mädchen, das den Sensenmann begrüßt, müsste ich mir nicht so viele Sorgen machen", fügte Tante Eleanor hinzu.
"I-Ich brauche etwas frische Luft", stammelte Adeline schließlich.
Adelines Herz setzte aus bei dem unerwarteten Stottern. Ihre Tante Eleanor verabscheute es. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie dafür gezüchtigt worden war, über ihre Worte zu stolpern.
"Mein Gott, nicht schon wieder", sagte Tante Eleanor und verdrehte die Augen. "Das Mindeste, was du als Prinzessin tun kannst, ist, dein Gesicht zu zeigen und —"
"Seine Majestät ist nirgends zu s-sehen", murmelte Adeline.
Adelines Herz klopfte schneller, als Tante Eleanor ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Trotz des dürftigen Tadels von Tante Eleanor als eine Viscountess, hatte sie immer noch eine unerschütterliche Wirkung auf die junge Frau.
Adeline wollte einwenden, dass sie keine Prinzessin mehr war. Den Titel hatte sie an dem Tag verloren, als ihre Eltern tragisch starben und ein Usurpator den Thron an sich riss. Sie gehörte nicht mehr dem Königshaus an. Trotzdem zwang Tante Eleanor sie, ein winziges Diadem zu tragen, als ob das etwas ändern würde.
"Kein Widerworte", tadelte Tante Eleanor. "Als Frau ist es respektlos, jemandem zu widersprechen, der weiser und älter ist als du."Adeline warf einen letzten Blick auf den prunkvollen Ballsaal des gewaltigen Schlosses. Über ihr funkelten Kristalllüster, während elegante Musik sich durch die tanzende Menge wob.
Um sie herum waren anmutige Frauen in prächtigen Gewändern und stattliche Männer, die den Duft von Reichtum verströmten. Der Anblick war ihr zuwider, und ihr drehte sich der Magen dabei um. Sie wollte nur weg. Das war nicht ihre Welt. Nicht ihre Stärke.
"Ich bin bald zurück", flüsterte Adeline. 'Oder auch nicht.'
Adeline entwich auf den Balkon. Die schweren Musselin-Vorhänge bewegten sich im Wind, als sie hastig an ihnen vorbeieilte. Die kühle, beissende Luft umhüllte ihre Haut und ließ sie erschauern.
Sie warf einen Blick zurück auf die wirbelnden Figuren im Ballsaal und ihre Hand umklammerte fester das Geländer. Es wäre ein verlockender Gedanke, sich vom Balkon zu stürzen und im Schutze der Nacht die Flucht zu ergreifen.
Adeline schluckte. Ein Dolch drückte gegen ihr äußeres Bein, das kühle Leder war eine schmerzhafte Erinnerung an ihre Mission in dieser Nacht. Den König verführen und ermorden. In der Theorie klang es einfach. In der Praxis? Nur Narren würden es wagen.
"K-konzentrier dich", zischte sie zu sich selbst.
Das Schicksal ihres Königreiches lag in ihren Händen. Sie musste den König töten, denn er war schuld am Untergang ihrer Eltern. Wahrhaftig ein abgedroschenes Szenario. Wenn sie nur eine selbstbewusste und starrköpfige Heldin mit der Zunge eines Silberfuchses wäre. Doch leider war sie nur eine kleine Prinzessin mit dem Kopf in den Wolken.
Mit einem Seufzer stieß sie sich vom Geländer ab und stieß gegen einen festen Körper. Sie wirbelte herum.
"Entschuldigung...", ihre Stimme erstarb, so wie ihre Hoffnungen und Träume.
Attraktiv war eine Untertreibung. Er war atemberaubend schön. Scharfe Gesichtszüge, Augen in der Farbe von Blutrubinen; er war ein Vampir. Seiner eleganten Gestalt und seiner einschüchternden Aura nach zu urteilen, gehörte er der hohen Vampirgesellschaft an.
Adeline ließ sich in den Bann seiner Augen ziehen. Sie war gefangen von seiner beeindruckenden Schönheit, so sehr, dass sie vergaß, ihren Blick abzuwenden. Das gehörte sich so - ein einfacher Mensch wie sie sollte sich verneigen, ungeachtet ihres Standes. Sie müsste den Boden küssen, den er betrat.
Sie war zu gefesselt von ihm. Seine Augen waren dunkel und geheimnisvoll, seine Lippen schmiegten sich zu einem hinterlistigen Lächeln. Ihr Magen kribbelte.
"Hallo, mein Liebling."
Adeline erschauerte bei seiner Stimme. Tief und rau, und doch samtweich. Sie erkannte diese Stimme und ihre Augen weiteten sich. Verloren in ihren Tagträumen hatte sie nicht bemerkt, welche Position sie einnahmen. Ihr schmaler Rücken war gegen das steinerne Geländer gepresst. Seine Hand umklammerte das Geländer neben ihrer Taille. Sein schwarzer Anzug konnte seine Muskeln nicht verbergen.
Er überragte sie.
"Was wollen Sie... tun?" brachte sie hervor. Sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sie stotterte, und versuchte, stark zu wirken.
Aber es gelang ihr nicht.Seine Hand ruhte auf ihrem Oberschenkel, seine langen Finger streichelten die Stelle, an der ihr Dolch verborgen war.
"Oh, Liebling", sagte er lächelnd und amüsiert, "ist das ein Geschenk für mich?"
Adelines Puls beschleunigte sich, ihre Lippen öffneten sich voll Entsetzen. Endlich erinnerte sie sich, wem diese Stimme gehörte. Sie hatte einmal eine durchzechte Nacht in der Gesellschaft dieser Stimme verbracht. Aber das war nicht alles, was passiert war.
Ein kühles, dunkles Lachen entwich seinen Lippen. Sein schelmisches Lächeln spielte um seinen Mund. Er beugte sich zu ihr herüber und seine Lippen streiften ihr Ohr. Sie erstarrte und wich zurück. Es gab kein Entkommen.
Sie war die Beute, gefangen vom Raubtier.
Sein Atem war heiß an ihrem Ohr. Es kitzelte. Ihre Finger ballten sich zu festen Fäusten. Ohne Vorwarnung landeten seine eiskalten Finger auf ihrer Hand.
"Was ist los, Liebling?" zog er in die Länge.
Seine Stimme ruhte wie Funken auf ihrem Körper. Schmetterlinge tummelten sich in ihrem Bauch. Unter normalen Umständen hätte sie ihn weggestoßen. Schließlich stand ihre Integrität und Würde auf dem Spiel. Aber sie kannte ihn. Und er kannte sie. Sie waren mehr als Fremde.
"Du warst in jener Nacht viel gesprächiger", stichelte er. "Heute Abend hingegen entscheidest du dich für Stille?"
Er führte ihre Hand zu ihrem Oberschenkel, drückte sie sanft gegen den Dolch.
"W-was willst du hier?" stammelte Adeline.
Endlich hatte Adeline ihre Stimme wiedergefunden. Doch sie konnte ihn nicht ansehen. Er stand zu nahe. Es war seltsam; Vampire rochen nach Tod und Mord, aber sein Duft aus Tannenzapfen und Zimt verriet ihr etwas anderes.
Er drängte sie sanft, ihre Hand in die Tasche zu schieben. Sie bemerkte, wie ihr langes Ballkleid zwischen seinen Schenkeln zerdrückt war. Sie schluckte.
Adeline schloss die Augen. Ihre Tasche hatte unten ein großes Loch, das ihr Zugang zum Dolch ermöglichte. Er zog ihn heraus und zeigte die glänzende silberne Klinge. Das Mondlicht schimmerte darauf und schuf die Illusion eines verliebten Paares, das in der Mitternacht entschwand.
"Wie reizend", neckte er. "Ich hoffe, du bist nicht hier, um mich zu töten."
Adeline konnte nicht atmen. Ihre Hand zitterte.
Adeline war mit dieser Aufgabe betraut, aber sie konnte es nicht erfüllen. Blut versetzte ihr Angst. Eine alberne Angst, vor allem, da ihre Rasse in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielte. Dennoch war sie nur ein kleines menschliches Mädchen, dachte sie zumindest.
"Meine süße Adeline", murmelte er leise lachend. Er ließ das Messer gekonnt durch seine Finger kreisen.
"Du von allen Menschen solltest wissen, wozu ich fähig bin."
Adelines Gesicht errötete. Sie wandte den Blick ab, doch er ließ ihr keine Chance.
"Was soll also dein Schicksal sein?" fragte er.
Adelines Herz bebte, so wie ihre zitternden Schultern. Der eiskalte Winterwind nagte an ihrer ungeschützten Haut, doch das schien ihm nichts auszumachen. Seine einst so freundlichen und warmen Augen waren nicht zu erblicken. Wie konnte sie das vergessen haben? Die Seite, die er ihr in jener Nacht gezeigt hatte, war eine bloße Illusion.
"Und wie soll ich dich nun bestrafen, meine liebe Adeline?"
Adelines Körper zuckte zusammen. Ihr Kopf schnellte hoch, offenbarte ihren erschrockenen Blick. Sein Lächeln wurde breiter.
"Nun, du könntest mich gehen lassen und..."
"Unsinn", unterbrach er sie schroff.
Adeline wich zurück. Seine laute Stimme erinnerte sie an jemand Unangenehmes. Es war seltsam zu begreifen, wie die Zeit einen Menschen verändern konnte. Früher war er nicht so gewesen. Erinnerte er sich an sie? Er benahm sich, als ob. Aber warum war er dann so unfreundlich zu ihr?
Plötzlich verhärteten sich seine Züge, seine Augen wurden schmal. Bevor sie seine Veränderung zu deuten vermochte, war er schon wieder der Alte. Wieder alles Lächeln und Scherze.
"Wer hat es getan, Adeline? Wer hat mein kostbares Opfer verletzt?"
Sie schüttelte hastig den Kopf. "Ich weiß nicht, warum du hier bist, aber ich rate dir zu gehen. Wenn Seine Majestät von einem Eindringling erfährt, wird er kein Erbarmen zeigen."
Seine Augen funkelten belustigt. "Und dich so einfach davonkommen lassen? Ich muss dich noch dafür bestrafen, dass du eine Waffe mitgebracht hast."
Wie wusste er überhaupt von dem Dolch? Wer hatte ihm gesagt, dass sie bewaffnet war? Wie war er überhaupt hereingekommen? Sie mühte sich, nach Antworten in ihrem Gedächtnis zu suchen. Was hatte er noch gleich gesagt, wer er war? Sie konnte sich nicht erinnern.
"Was willst du?" fragte sie schließlich, verzweifelt. "Ich muss bald wieder im Ballsaal sein."
Sein Lächeln wurde breiter. "Ich möchte, dass du mit mir tanzt. Aber nicht die Art von Tanz, die wir vor ein paar Nächten hatten."